IWF gewährt Rußland Milliardenkredit

Russische Regierung verspricht Begrenzung des Staatsdefizits, der Inflationsrate und des Produktionsrückganges / Optimismus in Moskau, Skepsis beim IWF  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Selbst der Direktor des Internationalen Währungsfonds ist hilflos, wenn er im Moskauer Verkehrsstau steckenbleibt. Doch der Stau, von dem Michel Camdessus am Dienstag aufgehalten wurde, war kaum die Hauptursache dafür, daß er sich erst am Abend mit Ministerpräsident Tschernomyrdin traf und daß erst gegen 22 Uhr die bang erwartete Entscheidung fiel: Rußland wird vom IWF nun doch weitere 1,5 Milliarden Dollar Kredit erhalten.

Die Summe bildet den zweiten Teil eines Kredites, dessen erste Hälfte in gleicher Höhe man dem russischen Staat im Juli vorigen Jahres ausgezahlt hatte. Das Mißtrauen des IWF, ob entschlossene Reformen im Lande wirklich eine Chance haben, ist offenbar seither gewachsen. Deshalb mußte die Regierung Tschernomyrdin diesmal eine ganze Reihe von Schwüren leisten, um den Verhandlungsdurchbruch zu erzielen: das Defizit des Staatsbudgets soll in diesem Jahr auf keinen Fall 10 Prozent des Bruttosozialprodukts überschreiten, die Inflationsrate des Rubels muß bis zum Jahresende auf 7 bis 9 Prozent im Monat gesenkt werden, der sich in den letzten drei Monaten rapide beschleunigende Produktionsrückgang soll wieder auf den Vorjahresdurchschnitt von 10 bis 12 Prozent begrenzt werden. Flankierende Vereinbarungen wurden jetzt sowohl über die Kredithöhe für Industrie und Landwirtschaft getroffen als auch über Steuer und Zollbegünstigungen sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben.

Ob solche Zusagen auf anderen als tönernen Füßen stehen können, daran hatte Camdessus mit Recht gezweifelt. Bisher hat die Regierung es nicht einmal geschafft, das vom IWF in vergleichbaren Fällen geforderte Memorandum über ihre Wirtschaftspolitik zu verabschieden. Was den Budgetentwurf betrifft, so wuchsen dessen Einnahmeposten kürzlich innerhalb einer Woche vor der offiziellen Bekanntmachung auf rätselhafte Weise von 90 auf 120 Trillionen Rubel. Zu Camdessus Erbitterung waren darin auch von Anfang an die 1,5 Milliarden Dollar enthalten, über deren Gewährung er ja erst noch zu entscheiden hatte. Das Haushaltsdefizit überschreitet zwar die erwünschten 10 Prozent des Bruttosozialproduktes nicht wesentlich, die Regierung ließ aber bisher keine ernsthaften Überlegungen laut werden, wie es künftig gedeckt werden soll.

Daß Camdessus Treffen mit dem Ministerpräsidenten letztlich den Ausschlag für das IWF-Ja gegeben hat, wirft ein Licht auf die Gründe für den vorangegangenen Blitzbesuch Tschernomyrdins in Präsident Jelzins Urlaubsdomizil in Sotschi. Weniger um die Zerstreuung von Gerüchten über Jelzins Gesundheit dürfte es dabei gegangen sein, als um die Beilegung einer klammheimlichen Regierungskrise. Die hatte sich letzte Woche eben an der Frage des Budgets entzündet. Finanzminister Alexander Schochin ließ nämlich eine Expertise an die Öffentlichkeit durchsickern, derzufolge Tschernomyrdin in seinem Entwurf das zu erwartende Einkommen der Regierung schamlos übertrieben hat. Während die Regierung einen Produktionsrückgang von 7 Prozent für dieses Jahr im Lande angesetzt hat, geht Schochin von bestenfalls 12 und schlimmstenfalls über 20 Prozent aus. Demnach befindet sich das Land bereits in einer veritablen Depression, und der Staat wird sein Versprechen nicht einhalten können, die Investitions-Emissionen aufs äußerste zu begrenzen, wenn der freie Fall ins politische Chaos verhindert werden soll.

Vorerst ist es Tschernomyrdin offenbar gelungen, die Regierungs-Phalanx zu kitten, während Camdessus wie die Feuerwehr zwischen den Dienstkabinetten der verschiedenen Ministerien, der Staatsbank und des Duma-Vorsitzenden Iwan-Rybkin verkehrte, um zu koordinieren, was die Russen selbst bisher nicht zu koordinieren vermochten. Offenbar wahrscheinlicher wurde infolge seiner Aktivitäten die Verabschiedung eines Budgets durch die Duma, das wenigstens äußerlich die Harmonie wahren wird. Russische Experten hoffen, daß die IWF-Entscheidung als Kettenreaktion nicht nur einen 600-Millionen-Dollar-Kredit der Weltbank nach sich zieht, sondern auch weitere Billionen privater Investitionen. Darin scheint vorerst der einzige Wall gegen das Anschwellen nationalistischer Mythen und UdSSR-Nostalgie im Lande zu bestehen. Die Entscheidung des IWF-Direktors, Rußland um jeden Preis zu helfen – auch um den Preis unrealistischer Ziffern – erscheint in diesem Dilemma als die einzig mögliche.