Böse Kasperlespiele familiärer Art

„Papa Mama“ von Lothar Trolle – Berliner Erstaufführung im Freien Schauspiel  ■ Von Jörg Mihan

Lothar Trolle hat kürzlich seinen 50. Geburtstag gefeiert. In der DDR war er ein „Jungautor“ und galt als Geheimtip. Auch nach der „Wende“ wurden seine Stücke noch gefürchtet, nun nicht mehr von den Behörden, sondern von Theaterleuten. Über zwanzig Dramen liegen mittlerweile zur Aufführung bereit, und zuweilen werden einige auch gespielt.

Das alles spricht nicht gegen Trolle, der sich in seinem Schreiben mit einem die Strukturen der Realität am Detail durchleuchtenden Blick treu geblieben ist, sondern eher gegen die Verzagtheit der Intendanten und Regisseure, die sich mit seinen kunstvoll- kargen, skurrilen und irdisch-abgründigen Entwürfen herumschlagen müßten, immer die unbequeme Wahrheit direkt im Nacken. Die „Wende“ hat es erneut ans Licht gebracht, daß er unbestechlich war und bleibt und seine Beobachtungen gültig sind und den Kern zwischenmenschlichen Verhaltens im genauen Kontext seiner Ein- und Auswirkungen treffen. Auch nachdem die Schleusen geöffnet sind, gibt es keine Flut von Inszenierungen, sondern, wie zuvor, nur beherzte Versuche hier und da. Sind das Lohn und Preis einer widerständigen Ästhetik?

Lakonik ist Trolles Eigenart, Wirklichkeitssinn, Belesenheit, eine meisterhafte Sprachbeherrschung und die Souveränität, aus den Tiefen und Verzweigungen des Banalen scheinbar einfache Situationen zu extrahieren, prägen seine Texte. Umgekehrt könnte man sagen: Trolle schreibt Oberfläche und schneidet alles heraus, was erklärt, schmückt und verbrämt. Er hält sich strikt ans Leben und verdichtet das Unauffällige. Das ist komisch und erschreckend, denn er erfaßt nüchtern-betroffen, was vorgeht zwischen Menschen, was sie miteinander anstellen und worin sich derlei äußert.

Trolle steht mit seiner monströsen Naivität in einer in der deutschen Dramatik raren Tradition des Grotesken, das eher von der französischen und russischen Avantgarde gepflegt wurde. Es ist kein Zufall, daß er Daniil Charms übersetzt hat. Seine Modelle sind von einer Kahlheit und Kontur, die das Fürchten lehren, nachdem man sich fast ans Fürchterliche gewöhnt hat, und zwar nicht nur, wenn er Alltagswelt und -gewalt thematisiert, wie zum Beispiel in „Hermes in der Stadt“. Dort präsentiert ein Literat ungerührt eine Kette von Raubüberfällen und Mordversuchen, die Trolle einfach aus Zeitungsmeldungen alphabetisch zusammengestellt hat, während der Feingeist gleichzeitig in der deutschen Verslehre schwelgt.

Auch Biographien filtert er aus dem Jahrhundert, zumeist in Monodramen. „Ein Vormittag in der Freiheit“ ist ein mehrfach gespieltes Stück, in dem ein abgesetzter Funktionär sich mit Eifer in seine neue Lage trainiert. Kasperspiele sind ein weiteres Sujet, in dem sich Trolles hintergründiger Purismus und seine gute Lust am bösen Spiel drastisch austragen können.

„Papa Mama“, bereits über 15 Jahre alt, ist erstaunlich aktuell geblieben. Es ist eine schroffe Familienidylle mit Einzelkind. Papa will sich von Mama befreien, Mama will sich von Papa befreien. Das Kind freut sich, daß etwas passiert. Papa hängt Mama auf, schlägt die Bude kurz und klein und kommt nicht weiter. Er erhängt sich neben Mama mit dem anderen Ende des Stricks. Mama fällt zu Boden und erwacht. Allein kommt sie auch nicht weiter. Also schneidet sie Papa wieder ab. Zusammen gehen sie nach Hause und genießen das unterbrochene Mittagessen. Sie wissen jetzt, was sie aneinander haben. Was da an Entfremdung, Emanzipationsstau und tragikomischen Selbstbefreiungsbestrebungen in der modernen Kleinfamilie in wenigen Szenen montiert ist, sucht seinesgleichen.

Zur Zeit arbeitet der Dichter an einem Stück über eine Schauspielerin mit dem absurden Titel „Sie zu dritt unter einem Apfelbaum“. Daß sich ein weiteres Berliner Theater an Trolle heranwagt, ist erfreulich, man darf gespannt darauf sein, was das Freie Schauspiel mit seiner Berliner Erstaufführung aus dem ungeheuerlichen kleinen Stück herausholt.

Premiere ist heute, dann bis 8.4., Do.–So., 20 Uhr, Freies Schauspiel, Pflügerstraße 3, Neukölln.