Mit prall gefülltem Konto für ein Jahr nach Rio de Janeiro

taz-Serie (1. Teil): Neue Arbeitszeitmodelle – Abschied von der Fünftagewoche / 40.000 Berliner StaatsdienerInnen arbeiten in Teilzeit / Der Senat will die Teilzeitmodelle ohne Lohnausgleich verstärkt fördern / Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst läßt sich dadurch aber nicht stoppen  ■ Von Hannes Koch

Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit und die freien Wochenenden sind auslaufende Modelle. Einige Unternehmen arbeiten bereits am Samstag und Sonntag – um die Maschinen besser auszulasten und konkurrenzfähiger zu sein.

Dieser Flexibilisierung steht die Gewerkschaftsforderung nach Verkürzung der Arbeitszeit gegenüber. Absicht und Hoffnung: Existierende Arbeitsplätze werden gesichert und neue geschaffen. In der Praxis gehen beide Strategien meist eine enge Verbindung ein. Wem die neuen Arbeitszeitmodelle dienen und wie sie in der Praxis funktionieren, hat die taz jetzt am Beispiel von Berliner Betrieben und Verwaltungen untersucht.

Für Marlies Koslowski, Lehrerin an einer Kreuzberger Grundschule, beginnen bald goldene Zeiten. Sechs Jahre hat sie den Kleinen täglich Rechnen und Schreiben beigebracht – jetzt packt sie die Koffer für ihren Abflug nach Rio de Janeiro. Ein Jahr wird sie durch Südamerika reisen – weit entfernt von der Schule, aber mit finanzieller Unterstützung des Senats. Der zahlt weiterhin Monat für Monat das Gehalt auf Koslowskis Konto.

Die Grundschullehrerin profitiert von der 1988 eingeführten „Sabbatical“-Regelung – benannt nach dem jüdischen Feiertag Sabbat. Berliner LehrerInnen haben die Möglichkeit, sechs Jahre zu arbeiten und danach ein Jahr bezahlten Urlaub zu nehmen. Bei voller Arbeitszeit verzichten sie sechs Jahre jeweils auf ein Siebtel (etwa 14 Prozent) ihres Gehaltes. In dem folgenden arbeitsfreien Jahr werden die angesparten sechs Siebtel (rund 84 Prozent) ausgezahlt. Ebenso lassen sich drei, vier oder fünf Arbeitsjahre mit einem Urlaubsjahr kombinieren. Die Rückkehr in den Schuldienst ist im übrigen garantiert – nicht jedoch an dieselbe Schule.

Was für die weltreisende Marlies Koslowski angenehm, ist für arbeitslose PädagogInnen nützlich. Weil die Summe der zu erteilenden Unterrichtsstunden gleichbleibt, werden zusätzliche LehrerInnen eingestellt, um die beurlaubten TeilzeitarbeiterInnen zu ersetzen. In Neukölln konnten auf diese Weise einige hundert LehrerInnen in den Staatsdienst hineinrutschen, meint Wolfgang Schimmang, örtlicher Stadtrat für Volksbildung.

Auch für das Land Berlin hat der Sabbat seine Vorteile: Der Staat leistet einen Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit, ohne daß der Finanzsenator dazubezahlen muß. Die neueingestellten LehrerInnen werden mit dem Geld bezahlt, auf das ihre teilzeitarbeitenden KollegInnen verzichten. Denn Teilzeitmodelle sind bis heute daran gekoppelt, daß mit der geringeren Arbeitszeit auch das Gehalt entsprechend sinkt – Lohnausgleich wird nicht gezahlt.

Trotz der Lohn- und Gehaltseinbußen wird Teilzeitarbeit unter den Beschäftigten des Berliner öffentlichen Dienstes immer beliebter – zumindest unter den Frauen: 90 Prozent der TeilzeitarbeiterInnen sind weiblich. Insgesamt haben von den 35.000 PädagogInnen 5.800 ihre Stundenzahl reduziert. Bei einer Gesamtzahl von etwa 300.000 Beschäftigten des Berliner öffentlichen Dienstes arbeiten 40.000 in Teilzeit: etwa 32.000 im Westteil der Stadt und 8.000 im Osten.

Und es sollen mehr werden, denn Berlins Chef des öffentlichen Dienstes, Innensenator Dieter Heckelmann (CDU), will die Teilzeitquote auf 25 Prozent aller Beschäftigten anheben. Heckelmann und sein Kollege, Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU), verfolgen dabei nicht in erster Linie das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern den geplanten Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst sozial abzufedern. Die Beschäftigten sollen auf ihren Arbeitsplätzen quasi zusammenrücken – zwei Teilzeitarbeiter zum Beispiel eine volle Stelle besetzen – und so Platz schaffen für KollegInnen, die sonst entlassen würden.

Mindestens 25.000 Stellen hat der Senat bis zum Jahr 1997 auf seine Streichliste gesetzt. Ausgangspunkt dieser Pläne sind – wie bei der diesjährigen Tarifrunde in der privaten Wirtschaft auch – die Personalkosten, die den Arbeitgebern zu hoch erscheinen. Tatsächlich ist der öffentliche Dienst Berlins im Vergleich zu anderen Bundesländern personalmäßig enorm aufgebläht. Während die Stadtstaaten Hamburg und Bremen mit etwa 53 StaatsdienerInnen pro 1.000 EinwohnerInnen auskommen, leistet Berlin sich 64, erläutert Dieter Vesper vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Besonders in den zentralen Funktionen des Landes, zum Beispiel bei der Innen- und Schulverwaltung, sei der Überhang groß. Auch die Polizeidichte fällt auf: In Westberlin sind 9,5 PolizistInnen pro 1.000 EinwohnerInnen beschäftigt, in Hamburg 6,2 und in Bremen nur 5,3.

Dieser Verwaltungsmoloch entstand nicht zuletzt in Zeiten, als Berlin noch eine kapitalistische Insel im Realsozialismus war. Stellen wurden geschaffen, um die Arbeitslosigkeit gering und die politische Lage stabil zu halten. „Der öffentliche Dienst war ein beschäftigungspolitischer Puffer“, meint Dieter Vesper. Er schätzt, daß nicht nur 25.000 Stellen, wie vom Innensenator geplant, sondern bis zu 50.000 Staatsjobs zur Disposition stehen, wenn Berlin sein Personal auf eine mit westdeutschen Verhältnissen vergeichbare Größenordnung zusammenstreicht.

Angesichts einer Stellenreduzierung in dieser Größenordnung kann auch die verstärkte Einführung von Teilzeitarbeit nicht mehr viel retten. Die beschäftigungspolitischen Effekte sind zu gering, um den massiven Abbau von Arbeitsplätzen auszugleichen. Selbst wenn tatsächlich 25 Prozent aller öffentlich Bediensteten ihre Arbeitszeit freiwillig verringerten, würden nach Berechnungen des Innensenators nur etwa zehntausend Arbeitsplätze geschaffen. Und Zehntausende von Beschäftigten wären auch weiterhin von der Kündigung bedroht.

Einen viel größeren Effekt bei der Sicherung von Arbeitsplätzen hat dagegen die flächendeckende Arbeitszeitverkürzung, wie sie das Bündnis 90/Die Grünen fordert. Der Unterschied: Während Teilzeitmodelle nur ein Angebot zur freiwilligen Reduzierung der Arbeitszeit darstellen, gilt die Arbeitszeitverkürzung für alle ArbeiterInnen und Angestellten im öffentlichen Dienst. Die Verminderung von derzeit 38,5 auf 30 Stunden wöchentlich würde nach Berechnungen der Grünen 41.000 zusätzliche Stellen schaffen – und damit den in den kommenden Jahren zu erwartenden Abbau von Arbeitsplätzen in der Verwaltung ungefähr ausgleichen.

Bislang mauert Innensenator Heckelmann jedoch, wenn es um die Arbeitszeitverkürzung geht. Gegenüber der Teilzeit hätte diese Regelung nämlich einen entscheidenden Haken für den Landeshaushalt: Sie wäre teurer. Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) würde zumindest einen teilweisen Lohnausgleich für die Beschäftigten der unteren Lohngruppen fordern, was die Personalkosten steigert.

Bei seinem Widerstand gegen die Arbeitszeitverkürzung kam dem christdemokratischen Innensenator Dieter Heckelmann die Rechtslage zu Hilfe, die es einem einzelnen Bundesland nahezu unmöglich machte, über Gehälter, Löhne und Arbeitszeit der StaatsdienerInnen aus eigener Machtvollkommenheit zu verfügen. Die Gehälter der BeamtInnen liegen in der Kompetenz des Bundes, und auch über die Löhne der ArbeiterInnen und Angestellten verhandeln Gewerkschaften und öffentliche Arbeitgeber auf Bundesebene. Einziger Ausweg: Der Berliner Senat hätte eine Ausnahmegenehmigung für Arbeitszeitverhandlungen bei der Tarifgemeinschaft deutscher Länder, der zuständigen Arbeitgebervereinigung, beantragen können. Diesen Schritt hat der Berliner Innensenator Dieter Heckelmann bislang verweigert.

Doch jetzt kommt trotzdem Bewegung in die ziemlich festgefahrene Berliner Situation – zumindest für den Ostteil der Stadt. Im diesjährigen Tarifabschluß haben ÖTV und Arbeitgeber auf Bundesebene vereinbart, daß zur Sicherung der Beschäftigung in Ostdeutschland dort die Arbeitszeit bis auf 32 Stunden pro Woche verkürzt werden kann.

Durch diese Öffnungsklausel sind jetzt erstmals eigenständige Berliner Verhandlungen über die Verminderung der Arbeitszeit in den östlichen Tarifbezirken der Hauptstadt möglich. Folge: Wenn die ÖTV es will, wird Innensenator Heckelmann von seinem Teilzeit-Dogma abrücken und Arbeitszeitverkürzung mit teilweisem Lohnausgleich zugestehen müssen.