Rechteckige Prachtexemplare

Evolution und Zuchterfolg: „Darwin und Darwinismus“, eine Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum  ■ Von Willi Winkler

Als Karl Marx ihm 1873 sein „Kapital“ mit der Widmung „Von einem aufrichtigen Bewunderer“ schickte und in aller Form anfragte, ob er den zweiten Band dem Entdecker der Evolutionslehre widmen dürfe, wußte dieser nicht, wie ihm geschah. Mit seinem geduldigen Sezieren und Zählen und Pfropfen im Tier- und Pflanzenreich hatte die Marxsche Verbesserung der innerweltlichen Lebensqualität eher wenig gemein. Gleichwohl quälte sich Charles Darwin eine der üblichen kollegialen Freundlichkeiten ab; ihrer beider Bemühungen um die „Erweiterung des Wissens“, schrieb er Marx als Dank zurück, würden zweifellos „auf längere Sicht zum Glück der Menschheit beitragen“. Ganz sicher über Marx' Beitrag war sich Darwin dann doch nicht; er hat die Seiten seines „Kapitals“ nie aufgeschnitten.

Darwin wurde 1809 in eine begüterte Familie geboren, die sich bereits vom strengen Regiment der Church of England befreit hatte. In der Schule versagte er, im Medizinstudium scheiterte er schon daran, daß er kein Blut sehen konnte, so daß die Familie ihn mit einer Pfarre versorgen wollte. Da könnte er dann der Mode jener Jahre, der beschaulichen Naturwissenschaft, in aller Ruhe frönen und den Herrgott auch so einen guten Mann sein lassen. Noch als er Ende 1831 das überraschende Angebot wahrnahm, statt sich in eine Landpfarrei zurückzuziehen, Kapitän FitzRoy auf der Beagle zu einer naturwissenschaftlichen Reise um die Welt zu begleiten, war sich Darwin keineswegs über seine Zukunft im klaren, litt weiter an hypochondrischen Anfällen, an Seekrankheit, Magenbeschwerden.

Die Tiere, selbst die exotischsten, die ihm auf der großen Fahrt unterkamen, schoß er wild daher, dachte erst spät daran, sie zu klassifizieren, einzuordnen ins Linnésche System oder sich nur zu wundern. Erst auf den Galapagosinseln gingen ihm die Augen über die unterschiedlichen Varietäten auf, entwickelte er seinen Begriff von der Auslese der Arten, dem Überleben der Tüchtigsten.

Als er nach fünf Jahren nach England zurückkehrte, war Darwin weniger denn je von der gottgegebenen Macht der Kirche überzeugt. Dafür ängstigte er sich als Angehöriger der neuen industriellen Elite, die vom ungebändigten Kapitalismus entschieden profitierte, vor der wachsenden Zahl der Proletarier. Schon 1789 hatte der Pfarrer Malthus in seiner Bevölkerungslehre damit gedroht, die niederen Schichten könnten mit ihrer hohen Geburtenrate das bewährte Klassensystem über den Haufen werfen und Emporkömmlinge wie die Darwins um ihre eben erst erworbene Macht bringen. Ebenso wie er Frauen lebenslang als „minderwertig“ ansah (und von seiner eigenen doch vollständig abhängig war), ging es Darwin um den wissenschaftlichen Nachweis, daß seinesgleichen eine höhere Stufe in der Evolution erreicht hatte als der gemeine Arbeiter in Liverpool und Manchester.

Mit der Macht der Kirche war auch der Glaube an die feinsäuberlich abgestufte Erschaffung der Welt in sechs Tagen geschwunden. Der Holländer Frederik Ruysch hatte im 17. Jahrhundert ein ziemlich abstoßendes Kabinett von Mißbildungen, skelettierten siamesischen Zwillingen, Embryonen ohne Schädeldecke und anderem Wunderzeug angelegt, das Peter der Große nach Rußland holte. Die Sammlung half weidlich mit, die überlieferte Lehre zu erschüttern, daß Gott sein Lieblingsgeschöpf nach dem eigenen Ebenbild erschaffen habe. Die „Ruyschsche Kunst“ war, schon weil sie kaum einer zu sehen bekam, in jenen trüben Tagen vor dem Heraufdämmern der Aufklärung weltberühmt – Jean Paul erwähnt sie in seiner Erzählung „D. Katzenbergers Badereise“ – und ist jetzt in der Dresdner Darwinismus-Ausstellung zum ersten Mal wieder in Westeuropa zu sehen.

Wenn es eines letzten Beweises für die Überlebensfähigkeit der englischen Mittelklasse bedurfte, lieferte ihn die Dampfmaschine. Einige wurden eben reich mit dem Kapitalismus, die anderen verdarben daran. Und schließlich bestätigte das kleine Vermögen, das der Spekulant Darwin mit dem Erwerb von Eisenbahnaktien und baureifen Grundstücken verdient hatte, daß die Evolutionstheorie, anders als der gottgefällige Kreationismus, auf der Höhe der viktorianischen Zeit war.

Darwin wurde, wie die Dresdner Ausstellung wieder zeigt, anfangs reichlich verspottet für sein unerbittlich naturwissenschaftliches Denken. 1873, acht Jahre nach der Niederlage im Bürgerkrieg, zogen die Bürger von New Orleans zum Mardi Gras mit einem unfreiwillig von Darwin inspirierten Maskenzug durch die Straßen, der die Nordstaatler und Sklavenbefreier als Tiere verhöhnte. Ernst Haeckel erhob Goethe, Bismarck und sich selber zu den größten Denkern seiner Zeit und popularisierte Darwins Werk in Deutschland. Ein Gleiches besorgte Cesare Lombroso mit seinen schauerlichen Ohrabgüssen „degenerierter“ Straftäter in Italien. Wenn schon einige besser zum Überleben befähigt waren als andere, tat ein Blick auf die Benachteiligten, auf die Verbrecher und Schwachsinnigen, ganz besonders gut.

Auch in der Demographie, dem Ursprung des darwinistischen Denkens, erwies sich Darwins Lehre als applikabel. Wenn man das Boot wieder einmal für zu voll befand, erbrachte eine scheinwissenschaftliche Untersuchung bei den Einwanderern in Ellis Island das erwünschte Ergebnis: daß aus Osteuropa nur Schwachsinnige in die USA strömten und den amerikanischen Volkskörper zu schwächen drohten. Zur Erhaltung der gesunden amerikanischen Art wurden auf Jahrmärkten der zwanziger Jahre Seit' an Seit' mit Zuchtsauen und Riesenkürbissen besonders gelungene Familienensembles („Fitter Families“) ausgezeichnet. Und natürlich berief sich auch die nationalsozialistische Schädelvermessung und Euthanasiepolitik auf den Darwinismus.

Als aufgeklärter Liberaler hatte Darwin die Sklaverei und den Hochmut der Weißen bekämpft, jetzt sollte sein Lebenswerk den Rassismus rechtfertigen. Fürst Kropotkin glaubte dem Menschen den Wolf als Vorbild empfehlen zu können, das Verhalten des Rudels sei bestimmt von „gegenseitiger Hilfe“, also zutiefst human. Unter Stalin wurde ein „schöpferischer Darwinismus“ propagiert. Der Agrarwissenschaftler Trofim Lysenko durfte sämtliche wissenschaftlichen Errungenschaften der vergangenen hundert Jahre übergehen, politisch korrekte Gene und Evolutionssprünge behaupten und die sowjetische Wissenschaft auf Jahre ruinieren.

Ein Bild aus dem Moskauer Darwin-Museum zeigt eine Abordnung junger Tschekisten, sieben Mann tief aufgereiht vor einem Regal mit Skeletten, brav die Kappe auf dem Kopf, die Augen links, den Säbel umgelegt, hängen sie an den Lippen von Professor Kots, der sie in die Geheimnisse des Darwinismus einführt. Aber das Glück der Menschheit?

Das Glück war für Darwin reine Naturwissenschaft. Er verwandelte sein Arbeitszimmer in eine „Schreckenskammer“, vergiftete zur höheren Ehre der Evolutionserforschung fleischfressende Pflanzen und Kakteen, skelettierte Enten, Tauben und Truthähne, kreuzte unermüdlich Blumen und Kletterpflanzen. Er füllte Seiten um Seiten mit Tabellen und Statistiken, zählte, teilte, wog, klassifizierte, systematisierte und revidierte für die Aufklärung. Sein letztes Experiment, 1882 ausgeführt vor der teilnehmenden Familie, wurde das eigene Sterben. Alles war wichtig, nichts durfte verlorengehen: „1 Anfall, leichte Schmerzen, 1 Dosis“, notierte er im Sterbebuch. So schwand er hin, mit 72 Jahren, ein unerschütterlicher Atheist bis zuletzt.

Am Ende des Dresdner Rundgangs dann die Rückkehr zum magischen Dunkel, aus dem die Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert nur zögernd trat. Nach der „Beagle“ und den prämierten Züchtungserfolgen (auf den stolzen englischen Ölbildern des ausgehenden 19. Jahrhunderts als durchgängig ziemlich rechteckige Prachtexemplare von Schweinen, Rindern, Schafen dargestellt); nach den Freak-Shows und den in Spiritus eingelegten Schrumpfköpfen; nach Lombrosos Turiner Kriminalmuseum, der nationalsozialistischen Eugenik, nach Lysenkos drittem Weg zum schöpferischen Darwinismus und Kropotkins humanistischem Rudel-Denken: ein Glas, ein schlichtes Einweckglas mit Wasser. Allein für dieses Exponat der Universität Hohenheim mußte sich das Hygiene-Museum vorübergehend in eine „gentechnologische Forschungsabteilung“ unter Supervision der TU Dresden verwandeln. In dem Glas, jederzeit auf dem evolutionären Sprung: gentechnologisch behandelte Tabakblätter.

„Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte“. Ab heute bis 26. Juni im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden. Dienstag bis Sonntag, 9 bis 17 Uhr. Katalog 29 DM