Das Zerbröckeln des Kemalismus

Am Sonntag sind die BürgerInnen der Türkei aufgefordert, sämtliche Stadtparlamente und Bürgermeister neu zu wählen. Die Regierung um Tansu Çiller und die etablierten Parteien stecken in einer schweren Krise  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Lärmend ziehen Autokolonnen durch die Istanbuler Straßen. Fähnchen werden geschwenkt, und aus Lautsprechern ertönen Wahlkampflieder. Ob türkischer Pop oder das Partisanenlied „Bella ciau“ – die Werbestrategen vermarkten alles, was sich für die Parteipolitik instrumentalisieren läßt. Die Sozialdemokraten leiern gar alte Widerstandslieder aus dem Gefängnis ab. Tonnenweise werden Pamphlete und Broschüren unter das Volk gebracht. Die großen Plätze und Straßen gleichen Zirkuszelten – die Plastikfähnchen der Parteien hängen so dicht beieinander, daß sie wie Zeltplanen wirken. Am Sonntag sind die BürgerInnen der Türkei landesweit zu den Urnen gerufen. Sämtliche Stadtparlamente und Bürgermeister werden neu gewählt.

Doch das Wahlvolk ist der Politik überdrüssig. Schenkt man den Meinungsforschungsinstituten Glauben, war der Prozentsatz unentschlossener Wähler noch nie so hoch wie heute. Viele werden erst gar nicht an die Urnen gehen. Allein die Angst vieler Wähler vor einem Wahlsieg der Islamisten in den Großstädten könnte den letzten Anstoß für Unentschlossene und Nichtwähler geben, doch ihre Stimme abzugeben.

Die Stimmungslage ist gedrückt. Die Inflation galoppiert, und die Kaufkraft der türkischen Lira nimmt von Tag zu Tag ab. Große türkische Konzerne wie der Haushaltsgeräteproduzent Arcelik und der Automobilkonzern Tofas haben angekündigt, die Produktion einzustellen und die Arbeiter in die Betriebsferien zu schicken. Ökonomen beschwören die Gefahr einer Hyperinflation, und selbst kleine Straßenhändler haben begonnen, ihre Ersparnisse in Devisen anzulegen.

Ein Ende des schmutzigen Krieges in den kurdischen Regionen ist nicht in Sicht. Mütter und Väter bangen um ihre Söhne, die den Militärdienst ableisten. Doch der Krieg ist nicht fern von den Großstädten im Westen. Täglich warten die Fernsehnachrichten mit irgendwelchen Bombenanschlägen und Toten auf. Der Kommunalwahlkampf findet zu einer Zeit düsterer Katastrophenvisionen und Zukunftsängste statt.

Die Nominierung von Tansu Çiller zur Vorsitzenden der konservativen „Partei des rechten Weges“ (DYP) und ihre Wahl zur Ministerpräsidentin hatte kurze Zeit für eine Aufbruchstimmung gesorgt. Doch die Wirtschaftsprofessorin, die großspurig den Türken zwei Schlüssel versprach (jeder Bürger sollte einen Autoschlüssel und einen Wohnungsschlüssel besitzen), hat das Land an den Rand des ökonomischen Ruins gebracht. Die Kommentatorin der großen türkischen Tageszeitung Hürriyet, Nese Düzel, hat Çiller zur „Nationalkatastrophe“ erklärt: „Sie bringt die kurdische Frage nicht zu einer Lösung, sondern zur Explosion. Weil sie weiß, daß sie die ökonomischen Skandale nur hinter politischen Spannungen verdecken kann. Weil sie ihre Basis in der Bevölkerung und ihrer Partei verliert, flüchtet sie sich zu den Generälen. Sie denunziert sogar den Koalitionspartner beim Generalstabschef.“

In der Tat ist die „Bekämpfung des Terrorismus“ das einzige Thema, mit dem Çiller auf Stimmenfang geht. Sie versuchte sich dadurch zu profilieren, daß sie vehement für die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten eintrat. Zum Kommunalwahlkampf schaltet die DYP Anzeigen in den Tageszeitungen, auf denen ein Krankenbesuch Çillers bei einem verwundeten Soldaten abgebildet ist: „Jede Stimme für die DYP ist ein Schlag gegen den Terrorismus und die Lösung für unsere Wirtschaft, die vom Terrorismus beeinträchtigt wird. Der separatistische Terror bedroht die unteilbare Einheit der Türkei durch Blutvergießen. Der separatistische Terror verhindert Investitionen, er jagt Touristen Angst ein und zerstört somit den Tourismus und führt die Ökonomie in die Sackgasse, weil Trillionen Lira umsonst ausgegeben werden.“

Çiller baut auf ein Image als eiserne Lady, die mit Panzern und Maschinengewehren die kurdische Guerilla PKK bekämpft. Doch das Image greift nicht. Alle Meinungsforschungsinstitute sind sich darüber einig, daß Çillers Partei bei den Kommunalwahlen gewaltige Stimmeneinbußen hinnehmen muß. Bereits im Vorfeld wird in der Partei öffentlich darüber diskutiert, ob Çiller als Ministerpräsidentin überhaupt noch tragbar ist.

Die Mutterlandspartei ANAP unter Parteiführer Mesut Yilmaz, die stärkste Opposition im Parlament, rechnet mit Stimmengewinnen. Doch mit beeindruckenden Wahlerfolgen der ANAP, die angesichts des wirtschaftspolitischen Desasters und der Eskalation in den kurdischen Regionen natürlich wären, wird nicht gerechnet.

Die Existenz zweier großer rechter Parteien in der türkischen Politik ist Folge des Militärputsches von 1980. Die Militärs wollten verhindern, daß die Altparteien wiederaufleben. Turgut Özal war es, der nach dem Militärputsch die ANAP gründete. Die Partei setzte auf städtische Mittelschichten. Im Gegensatz zu Özal, der sich als flexibler Tabubrecher in der Politik erwies und über eine Föderation mit den Kurden diskutieren wollte, ist Mesut Yilmaz ein Mann des Status quo. Hinsichtlich der Kurdistanpolitik gibt es kaum Differenzen zu Ministerpräsidentin Çiller: Beide sind ganz im Fahrwasser des türkischen Generalstabes, der die „militärische Lösung“ des kurdischen Aufstandes zur Leitlinie der Politik erklärt hat.

Das Abbröckeln des Kemalismus als herrschende Staatsideologie wird sich am Sonntag darin niederschlagen, daß die etablierten Parteien Stimmen verlieren. Der Aufwind für die islamistische „Wohlfahrtspartei“ (Refah) und der Umstand, daß sich in Kurdistan kaum Kandidaten für die etablierten Parteien aufstellen lassen, sind Zeichen für zunehmende Legitimationsprobleme des politischen Systems in der Türkei.

Die Sozialdemokraten, die stets als staatstragende, kemalistische Partei wirkten, sind ebenfalls vom Strudel nach unten erfaßt. Durch Nominierung teils parteiloser prominenter Kandidaten hofft die „Sozialdemokratische Volkspartei“ auf Stimmen. Von größter Bedeutung sind die Wahlen in der 10- Millionen-Stadt Istanbul. Hier tritt der Komponist, Liedermacher und Filmproduzent Zülfü Livaneli als Kandidat der Sozialdemokraten auf. Nach der Militärintervention 1971 war er mit falschem Paß geflüchtet und hatte Lieder wider die Militärs gesungen.