■ In Mexiko wurde der Präsidentschaftskandidat ermordet
: Ein Mord und viele Motive

Jede kriminalistische Untersuchung eines Mordfalles beginnt mit der Frage nach dem Motiv – so müßte es auch im Falle Luis Donaldo Colosios sein, dem mexikanischen Präsidentschaftskandidaten der PRI, der in der Nacht zum Donnerstag erschossen wurde. Da aber fangen die Probleme an: Es sind einfach zu viele in Mexiko, denen es nicht schlecht in den Kram paßt, daß mit dem Tod Colosios dessen Kandidatur für das Präsidentenamt vom Tisch ist. Colosio hatte sich zu einer Art mexikanischem Heitmann entwickelt – ungeliebt, einmal nominiert und nicht mehr davon abzubringen, daß er der richtige sei. Mit ihm als Kandidaten waren die Chancen der seit 65 Jahren regierenden PRI, auch in diesem Jahr die Wahlen zu gewinnen – wenn denn ehrlich gezählt wird –, deutlich gesunken. Colosio stand für Kontinuität, wo nach dem Chiapas- Aufstand ein Bruch gefragt war, wo frischer Wind in die mexikanische Politlandschaft wehte.

Für diesen frischen Wind steht viel eher Manuel Camacho Solis, der sich als reformwilliger Verhandlungspartner in den Gesprächen mit den indianischen Aufständischen profiliert hat. Der aber war, ohne eine schwere Krise der PRI öffentlich zuzugeben, nicht mehr nachträglich zum Kandidaten zu machen – Colosio stand im Weg.

Nein, keine Verschwörungstheorie. Kein Mensch weiß derzeit, wer die Auftraggeber des Mörders sind. Nicht einmal, ob es überhaupt Hintermänner gegeben hat, ist bekannt – der mutmaßliche Täter schweigt sich aus. Vielleicht gab es keine, und das führt in der Motivsuche auf die nächste Fährte: Verdächtig sind auch all jene, die noch gut in Erinnerung haben, daß der Karrierist Colosio den Wahlkampf des heutigen Präsidenten Salinas de Gortari geleitet hatte – Wahlen, die nicht zum ersten Mal kräftig nach Betrug rochen. Ein Mörder als Rächer der betrogenen Gesellschaft – auch eine Hypothese.

Zunächst aber zeigen sich alle entsetzt, und viele werden wirklich ängstlich schauen, was dieses Jahr noch alles bringen kann. Sicher demonstriert der Mord an Colosio eine weitere Bruchstelle der politischen Entwicklung. Aber das beschauliche und „moderne“ Mexiko auf dem Weg zu Gewalt und Terror?

Wahrscheinlicher ist ein anderes Szenario: Die allgemeine Verurteilung der Gewalt könnte zum großen Konsensbringer werden, wo die mexikanische Gesellschaft gerade drohte, in politische Polarisierung abzurutschen. Camacho Solis wird neuer Kandidat der PRI, die sich mit dem neuen Opfer-Bonus weit bessere Chancen auf einen Sieg ausrechnen kann. Für die Aufständischen in Chiapas wird es dann schwieriger. Angeklagt, die Gewalt nach Mexiko gebracht haben, könnten sie schnell wieder in der Isolation verschwinden, aus der sie ausgebrochen sind. Bernd Pickert