Taumel und Gier

■ II. Teil: Neuer Tanz aus Belgien, Frankreich und Hamburg

Eine Choreographie um den Zustand des Taumelns, des Selbst- und Fremdverlustes und auch die Faszination an diesem Schwindelgefühl zeigt Nadine Ganase bei den Tanztheaterwochen auf Kampnagel mit ihrem dritten Tanzstück Falling (7.-9. 4.). Fünf Frauen im Zustand von Falling. Fünf Geschichten, fünf Portraits.

Das Stück entstand in der Konfrontation der Tänzerinnen mit Fragen zur Identität, Kindheit, Liebe, Angst und Krieg. Die Struktur spiegelt die Prinzipien Ordnung, Chaos und der Zustand danach wider. Fünf Bildschirme auf der Bühne visualisieren die Emotion des Körpers und der Gedanken im Gesicht der Tänzerinnen, vergrößern diese, setzen die Abbildungen in Simultanität oder Verzerrung zum Bühnengeschehen. Einer Welt voller Sehnsucht nach Sinn und Liebe wird eine Welt der Schrecken und Resignation entgegengestellt. Das letzte Wort ist Leere. Ganase geht mit der Fusion von szenischen und tänzerischen Elementen, von Textmaterial und technischen Medien ihren eigenen Weg.

Die Belgierin und Ex-Rosas-Frau Michèle Anne de Mey, läßt sich für ihre Choreographien zumeist von musikalischen Vorlagen inspirieren. In ihrer Arbeit Sonatas 555 (21., 22. April) nimmt sie neun Scarlatti-Sonaten für Cembalo als Folie für die choreographische Struktur. Neun Tänzer/innen und ein Schaf tanzen auf diesem Teppich aus Musik ein leichtes, lebensfrohes Spiel, das jedoch soviel Präzision verlangt, wie das Spiel mit Mikadostäben, die auf der Bühne ausgestreut liegen. „Mond und Sonne haben es nicht eilig“, sagt ein Tänzer, sie sind exakt.

Aus Marseille kommt die Produktion Le salutations d'un am lointain (22. - 23. 4.) von Odile Cazes. Die französische Choreographin versucht, den Widerhall einer fremden Kunstgattung im Medium Tanz zu erzeugen. In ihrer neuen Arbeit fließt der Pinselstrich Giorgio de Chiricos ein und führt zu einer Klarheit der Bewegungen und Geometrie der Sequenzen. Die zweite Gruppe aus Marseille, die Compagnie du Solitaire (22. 4.), öffnet sich in ihren Fragments tirés du sommeil unvorhersehbaren Augenblicken, die man in der Zeitlosigkeit des Schlafes erleben kann. Einer Traumlandschaft ähnlich, verwebt sich die Choreographie mit Texten von Alan Silitoe und Paul Klee. Ein wahres Chaos veranstaltet Philippe Saire aus Lausanne in seinem Tanztheater La Nebuleuse du Crabe (15./16. 4.). Aber es geht um Ordnung. Um tödlich ernste Spiele und ihre Regeln, aber auch um die gesellschaftliche Ordnung und ihre Gesetze, die um des Todes Preis aufs Spiel gesetzt werden - der Tod als eine unangreifbare Regel von Existenz, als Risiko aus Gier nach Leben.

Analoges dazu enthält The Challenge vom Dynamo Théatre aus Montréal (29., 30. 4, 1. 5.): Proportional zu Gefahr und tödlichem Risiko des Abenteuers scheint auch hier die Sehnsucht nach einem aufregenden Leben zu stehen. Eine Bande Jugendlicher mißt ihren Mut an den Herausforderungen einer unheimlichen Bergwand. Das akrobatische Bewegungstheater, das in seiner Darstellungsweise selbst Risikobereitschaft zeigt, ist nicht nur für Jugendliche interessant. Rotraut de Neve und Heidrun Vielhauer setzen mit Kassandra II (27.-30. April, 1. Mai) den Schlußpunkt. Angesichts der Mittelkürzungen für freie Produktionen erinnern die beiden ihre kassandrischen Fähigkeiten und lassen sich auf das Abenteuer des Visionierens ein. „Wenn man nichts hat, bleibt einem immer noch die Freiheit, sich vorzustellen, was man tun könnte, wenn man etwas hätte.“

Annette Kaiser Teil III: Jo Fabian, Teil IV: Coax