„Notfalls drehen wir auch auf dem Klo“

■ „Premiere“ will den Wohngemeinschafts-Alltag als Reality-TV verwursten

Armes deutsches Reality-TV: Den ProduzentInnen gehen langsam die Ideen aus. Kein ins Abflußrohr eingeklemmtes Baby lockt mehr die ZuschauerInnen vor die Glotze, keine beim Surfen gekenterte Urgroßmutter sorgt noch für lohnende Einschaltquoten. Was also tun, grübelte der teils verschlüsselte Schüsselsender „Premiere“ – und besann sich schließlich auf den Alltagszoff einer Berliner Wohngemeinschaft. Schon im Herbst soll der allseits beliebte WG-Streit um das Stehpullern der Männer in einer zehnteiligen Serie über die Mattscheibe flimmern.

Eine bloße Dokumentation sei natürlich nicht geplant, verrät Produzent Markus Peichl von der Hamburger Produktionsfirma „Mediaboard“. Der Zeitgeist- Guru und einstige Chefredakteur von Tempo und Wiener will sieben „einfache“ Menschen aus dem Volke drei Monate lang von Juni bis August in eine Fabriketage stecken und rund um die Uhr von zwei Kamerateams beobachten lassen. „Ein Drehbuch gibt es ebensowenig wie Regieanweisungen“, sagt Peichl: „Die natürlichen Auseinandersetzungen zwischen den Mitwirkenden ergeben von ganz allein die Dramaturgie.“

Damit sich der allzu großzügige Umgang mit dem Filmmaterial auch lohnt, sucht Markus Peichl Leute zwischen 18 und 28 mit völlig unterschiedlichen Biographien und Perspektiven. Die Kreuzberger Alt-68er-WG aus Lehrerin, Volkshochschuldozent und Journalist braucht also nicht auf die Schauspielerkarriere zu hoffen. Ideal für die Fernseh-Kommune wären zum Beispiel ein strammer Junge-Union-Bubi, eine HIV-positive Fixerin, ein waschechter Autonomer, eine türkische Polizeischülerin und eine Neuköllner Trümmertunte. Titel der Premiere-Serie übrigens: „Das wahre Leben“. Das wahre Leben? „Na ja“, rechtfertigt sich Peichl, „das Fernsehen zeigt doch grundsätzlich nicht die genaue Wahrheit.“

Ganz neu ist die TV-gerechte WG-Simulation natürlich nicht, sondern von MTV abgekupfert. Bereits 1992 unterhielt eine willkürlich zusammengewürfelte New Yorker WG unter dem Titel „Real World“ die US-Fernsehnation. Inzwischen hat MTV sogar schon eine zweite Staffel mit neuen DarstellerInnen aus Los Angeles gesendet, eine dritte wird derzeit in San Francisco produziert. Ein Zufallserfolg. Eigentlich wollte MTV eine Seifenoper drehen, hatte aber dafür nicht genug Moneten.

Über die Produktionskosten der Berliner „Clip-Talk-Sendung“ schweigt sich Markus Peichl aus. Billig wird sie jedenfalls nicht. Aufwendig ist schon allein die Auswahl der sieben Mitwirkenden. Peichl, der bereits jetzt mit Briefen fernsehgeiler Wohnungssuchender überschüttet wird, rechnet mit bis zu 10.000 BewerberInnen. An rund 1.000 von ihnen sollen Fragebögen verschickt und die Hälfte der Antwortenden soll interviewt werden, bis schließlich fünfzig Leute fürs Casting übrigbleiben – die Glücklichen werden dann schon mal vorsorglich zu Hause und am Arbeitsplatz auf ihre Kameratauglichkeit geprüft. Falls die Serie ein finanzieller Flop werden sollte, braucht Peichl also nicht zu jammern. Seine tausendfachen Erkenntnisse über die deutsche Pillenknick-Generation kann er notfalls auch als soziologische Studie verwursten.

Wer „Premiere“ sein Jawort gegeben hat, kann nicht mehr zurück. Per Vertrag müssen sich alle LaiendarstellerInnen verpflichten, die ganzen drei Monate durchzuhalten – auch wenn die anderen noch so ätzend sind und die Kamerateams in der mit Scheinwerfern vollgestellten Wohnung immer mehr nerven. Erlöst wird man nur, wenn man seine MitbewohnerInnen so sehr nervt, daß man von ihnen rausgeworfen wird. In den Vertrag müssen natürlich auch die LebensabschnittsgefährtInnen einwilligen, schließlich treten sie im Fernsehen als NebendarstellerInnen auf.

Tabus soll es in der Berliner Fernseh-WG zwar möglichst wenig, im Gegensatz zum US-Vorbild aber immerhin Zimmertüren geben. „Keine Angst, wir filmen nicht beim Vögeln. Dafür gibt's Sat.1“, beschwichtigt Markus Peichl. Fraglich ist jedoch, ob der Gang zur Toilette unbeobachtet bleibt. „Ich hoffe, es passieren spannendere Dinge, als daß jemand scheißt“, sagt Peichl. „Aber notfalls drehen wir auch auf dem Klo.“

Ausgestrahlt werden soll die Reality-Seifenoper ab Mitte September, und zwar unverschlüsselt. Wir sind schon jetzt mächtig gespannt auf den Schlußkommentar: Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn es heißt: Axel ärgern Ninas Haare in der Badewanne, Christian hat wieder die Kaffeemaschine nicht ausgemacht, Klaudia schert sich einen Dreck um den Putzplan, und Thomas vögelt immer so laut mit seinem Freund. Micha Schulze

Wer schon immer ins Fernsehen wollte, schickt seine Bewerbung mit Lebenslauf, Foto und Selbstdarstellung an: Premiere, Das wahre Leben, 20617 Hamburg.