In Osteuropa schlägt Stalins Erbe durch

Der Westen wurde nicht nur durch den Zusammenbruch des Kommunismus, sondern auch durch das Auftauchen von Führern wie Iliescu, Mečiar und Milošević überrascht. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatten wir soviel vom Internationalismus gehört, daß wir uns kaum vorstellen konnten, unter diesem Schaumgebilde könne der Chauvinismus blühen. Aber wahr ist, daß die vielleicht größte Ernüchterung der Nachkriegszeit durch das Aufflammen der offenbar seit 1945 dösenden Nationalismen in Osteuropa ausgelöst wurde.

Wo kamen die so plötzlich her? Der Internationalismus im einstigen Ostblock war immer nur gespielt. Die Führer der von der Roten Armee besetzten Staaten erkannten schon bald nach der kommunistischen Machtergreifung: Wenn sie nicht wollten, daß die Bevölkerung sie als bloße Kollaborateure betrachtet, mußten sie ihren „Patriotismus“ unter Beweis stellen. Die einfachste Methode dazu war das Attackieren von Minderheiten. Das taten beispielsweise die polnischen, tschechischen und slowakischen Kommunisten 1945. Die einen siedelten mit tatkräftiger Unterstützung der Roten Armee die Deutschen aus, die anderen vertrieben die Ungarn. Bedurfte es eines glänzenderen Beweises dafür, daß die Kommunisten bessere Patrioten als die Bürgerlichen waren?

Die Verfolgung von Minderheiten paßte auch später noch in die Szenarien der kommunistischen Parteien. Ein grundlegender Charakterzug der stalinistischen Systeme waren permanente Säuberungen, die „Abrechnung mit dem Feind, der sich in unsere Reihen gedrängt hat“. Die Parteiführer rechneten anfangs mit potentiellen Konkurrenten ab, später dann auch mit dem Fußvolk. Da die Parteien monolithisch sein mußten, waren Angehörige von Volksgruppen von vornherein verdächtig. Säuberungen konnten nationalistische Züge annehmen, wie das Gheorghe Gheorghiu-Dei mit den Gründern der rumänischen KP – zu einem beträchtlichen Teil Ungarn – anstellte. Aber es gab auch simpel antisemitisch gefärbte Säuberungen, wie den Prager Slansky-Prozeß. Weitere antisemitische Säuberungen blieben im damaligen Ostblock nur deshalb aus, weil Stalin mitten in den Vorbereitungen zu einem Schauprozeß gegen jüdische Ärzte starb.

Unter den kommunistischen Führern gab es einige, die den Nationalismus in der Bevölkerung gerade dadurch wach hielten, indem sie ihren Internationalismus überkompensierten. Zu diesen gehörte Josip Broz Tito, der um jeden Preis seine kroatische Herkunft vergessen machen wollte. Der Vorwand für die alle Jahre wieder veranstalteten Säuberungen im Kommunistischen Bund der Jugoslawen war Kroaten gegenüber stets „nationalistische Abweichung“, während Serben eher des „bürgerlichen Liberalismus“ angeklagt wurden.

In den sechziger Jahren dämmerte es mehreren KP-Granden, daß sie für eine teilweise Legitimierung eine Art Ausgleich mit der Bevölkerung benötigten. Das konnte erreicht werden nach dem Vorbild Janos Kadars in Ungarn, der einfach ökonomische Konzessionen machte. Es entstand der sogenannte „Gulasch-Kommunismus“. Man konnte auch wie Tito agieren, der seine Akzeptanz bei der Bevölkerung durch die Zulassung von Auslandsarbeit und durch Unabhängigkeit von Moskau zu vergrößern suchte. Sowohl Nicolae Ceaușescu als auch Gustav Husak dagegen gründeten ihre Legitimität auf die angebliche Bedrohung durch ungarische Nationalisten. Ganz allmählich entstand im gesamten osteuropäischen Raum eine Situation, in der die Minderheiten noch stärker unterdrückt wurden als die Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung. In den siebziger und achtziger Jahren standen sich die Bruderstaaten des Warschauer Paktes zeitweise fast feindlich gegenüber – die nationalistischen Konflikte ließen sich nicht mehr verschleiern.

Das wahre Problem begann, als die Oppositionsparteien in einzelnen Ländern ihre Basis zu erweitern suchten, indem sie behaupteten, das kommunistische System sei nationsfeindlich, antinational. Die Opposition in Kroatien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei konnte damit bedeutende Unterstützung in der Bevölkerung gewinnen. „Wir wollten einen Tiger reiten und wundern uns jetzt, daß er nicht stehenbleibt, wenn wir wollen“, wie es ein kroatischer Schriftsteller einmal rückblickend feststellte. Die nationalistisch argumentierenden Systemkritiker bekamen nämlich sehr rasch eine sie rechts überholende „innere Opposition“. Und im Wettstreit mit dieser siegten dann chauvinistische Parolen.

In den vergangenen vier Jahren hat sich in ganz Osteuropa erwiesen, daß die recht einfache Errichtung einer pluralistischen Gesellschaftsordnung durch Gesetze noch keine Demokratie schafft. Dazu bedarf es nämlich des Erlernens demokratischer Spielregeln durch die Gesellschaft. Heute gleichen die osteuropäischen Gesellschaften einem Haus, das schon bewohnt ist, obwohl nur die tragenden Wände stehen, Türen, Fenster und ein schützendes Dach aber fehlen. Wie das Beispiel des zum Reiten gezähmten Tigers zeigt, wird jeder Nationalismus einmal unbezähmbar. Osteuropas Zukunft hängt jetzt davon ab, ob es die Kraft findet, gegen den atavistischen Drang zum Töten anzugehen. Tibor Fenyi

Der Autor ist Historiker und freier Journalist in Budapest. Früher war er Mitglied der demokratischen Opposition um den Schriftsteller Georgy Konrad, heute bei den Freien Demokraten.