Wie sie es getrieben hat

Moravias „Der Zuschauer“ am TAT  ■ Von Arnd Wesemann

Jan Decorte ist belgischer Parlamentsabgeordneter, ein parteiloser Gregor Gysi, der im Nebenberuf keine Rechtsanwaltskanzlei, sondern ein anarchistisches Zweipersonentheater betreibt. Decorte ist die gesteigerte Brüssler Variante des italienischen Dario Fo. Sein bekanntester Schüler heißt Jan Lauwers. Beide lieben Shakespeare. Decorte ärgerte erst kürzlich voll schlauer Wut das Münsteraner Publikum mit „Titus Andonneroniküssmeinarsch“, agierte als gefährlicher Berserker, als Unruhestifter und Kopfverdreher: ein fiebriges Gewaltbündel. Lauwers inszenierte in Frankfurt Shakespeares „Antonius und Cleopatra“ und „Julius Caesar“. Er ist Ästhet geblieben, ein feinnerviger Salonregisseur und Theaterpoet, der in seinen unaufgeregt aufregendsten Stücken eine Ahnung von jenem Theater vermittelt, das, auf das Kino übersetzt, einem Jim Jarmusch vergleichbar wäre.

Jan Decorte und Jan Lauwers ähneln sich heute nur noch in einem Punkt: ihr Theater wird von expliziten Schauspielern gespielt, nicht von Bühnenfiguren. Niemals steht Hamlet, stets nur ein Hamlet- Darsteller zur Verfügung. Die Rolle ist ein Kleid zum Anprobieren, das Theater ist eine lange geduldige Weinprobe. Viele Rollen, viele Traubensorten, viele kleine Schlückchen – ein protestantisches Theater.

Das trunkene Besäufnis, das Eintauchen in die Rolle, das Entzünden der Seele, die Ekstase der Identifikation lehnt Lauwers ab. Auf solcher Bühne muß ein trunkenes Gedicht von Mallarmé – „Die negerin begehrt vom dämon jäh getrieben“ – sofort ausgenüchtert und vom langbeinigen, langatmigen, lang ansehbaren Schauspieler Mil Seghers so lange im akademischen Diskurs zerfleddert werden, bis die nüchternen Fakten sich im Buchhaltertheater des Jan Lauwers als ein schlichtes „per Saldo“ wiederfinden. Aus dem Gedicht wird die Summe seiner Einzelheiten. Aus der Poesie eine Anleitung zur Spekulation. Wo bei Mallarmé geschrieben steht: „Das opfer windet stumm sich zwischen ihren beinen“, handelt es sich hier nur noch um den Sachverhalt: a) zwischen zwei Frauen, von denen b) eine erwachsen und eine ein Kind ist, die überdies c) als eine Negerin und eine Weiße beschrieben werden. Eine erwachsene Negerin also verführt ein weißes Kind zum Beischlaf.

Aus der epischen Distanz macht Lauwers Romanistentheater, keine Anschauung: er zerlegt die Literatur und damit auch das Theater. Die Bühne bleibt spekulativer Spielplatz der Möglichkeiten, ohne sie auszuschöpfen. Vorsichtiger denn je geht Lauwers sein jüngstes Regiewerk an: Mit dem Roman „Der Zuschauer“ („L'uomo che guarda“) des italienischen Henry Miller: von Alberto Moravia. Moravia endet den Roman mit der Inventur des Mallarméschen Gedichts, läßt sich dabei zu einem Vergleich zwischen Atomspaltung und weiblicher Spalte hinreißen. Naturwissenschaftliche und sexuelle Entdeckung, Forschung und Begehren sind ihm identisch. Moravias Erkenntnis: das Begehren selbst als das Rationalste von der Welt zu feiern. Lauwers dagegen verbietet im Texteifer jede Andeutung von Begehren. Der Voyeur des Theaters, der Zuschauer, entdeckt nur obszöne Verbalinjurien, die auf einer Zeitstreckbank zwei Stunden lang das Theater am Theater hindern. Dazwischen ein paar Steigerungen. Um die allerdings geht es. Um die unvergleichliche Stärke seiner Schauspieler, die Lauwers' Absichten spielerisch übertreffen. Das Stück – erster Teil einer „Snakesongs“ genannten Theatertrilogie – hebt im Theater am Turm an mit Moravias Erstling „Gli Indifferti“ („Die Gleichgültigen“, 1956). Grace Ellen Barkey – weit bessere Schauspielerin als sonst Regisseurin – erscheint in schwerem Perlenkleid , das sie wie einen Panzer vor sich herschleppt, die Haare zur Maske vors Gesicht gegossen und ein Zittern am Leib, das kaum von Kälte zeugt, eher von Entzug. Ein spasmatisches Nervenbündel nach dem anderen betritt die Bühne, die Arme um die schmerzende Taille gelegt, die Hände abgewinkelt. Ein abstrakter Film spiegelt sich fast unsichtbar in den Paillettenkleidern der Frauen. Eine akustische Gitarre wird vom Geräusch eines Staubsaugers gestört. Der Vorhang fällt. Es hat noch nichts angefangen, da ist schon alles wieder aus. Es wird ein Tänzchen sinnlos gewagt, wo der Zuschauer bereits Schauspieler sah. So lauert man bei Lauwers, bis es endlich weitergeht. Nach einer halben Stunde: die absurdeste Fassung von „Ehen vor Gericht“, aus Moravias „Zuschauer“, ein Höhepunkt, der sich vor lauter Freude über sein Höhepunkthaftes so lange dehnt, bis der Absturz in die Langeweile greifbar ist. Zwei Übersetzer übersetzen mehrsprachig den Seitensprung einer Frau, dargestellt von vier Frauen, die einen Mann, dargestellt von zwei Männern, so „betrogen“ hat, wie Männer betrügen, wenn sie behaupten: der Beischlaf mit einer Fremden sei kein Verrat an der Liebe der einen. Alle wollen Offenheit und kommen bei der obszönen, pornographischen Erzählung der Wahrheit an: wie sie, die fremdging, „es“ mit einem anderen getrieben habe. In allen Einzelheiten wird das Obszöne beschrieben, in aller Lüsternheit, die mit Eifersucht sich mischen könnte zu einem explosiven, spannenden, lustvollen Theaterereignis, das verglüht, statt sich zu entladen, das an einem Einfall sich aufhält, statt zu begeistern. Im Hintergrund des Theaters lacht es gleichwohl leise auf. Hundert von der Bühne längst entlassene Gesichter fahren herum und sehen nur einen, der da gelacht haben muß: Jan Lauwers selbst.

Weitere Aufführungen: Sa., 26.3., Di. 29.3. bis Sa., 4.4.