Chinafieber, Chinaboom

Nach Tiananmen: Wie die westliche Welt die Kunstwelt Peking entdeckte  ■ Von Sachiko Tamashige

Peng! knallte ein Pistolenschuß durch die Ausstellungshallen. Februar 1989. In Peking eröffnete die erste Ausstellung moderner chinesischer Kunst. In diesem Fall bestand das Ausgestellte aus einer Telefonzelle, auf die eine der beteiligten KünstlerInnen einen Schuß abfeuerte. „Keine Zerstörung – keine Schöpfung“, soll sie später gesagt haben – ein enigmatischer Auftritt, der das Publikum auf Verbindungen zwischen Kunst und Gesellschaft aufmerksam machte.

Der Gebrauch von Schußwaffen ist ZivilistInnen in China verboten. Beide KünstlerInnen wurden verhaftet und die Ausstellung geschlossen. Mit einer kleinen Demonstration wurde gegen die repressive Reaktion der Behörden protestiert. Die Verhafteten waren das Paar Tang Song und Xiao Lu. Schwere Bestrafungen wurden erwartet, aber die beiden Kinder hoher Funktionäre wurden ohne Anklage entlassen. Das alles passierte knapp vier Monate vor dem Tiananmen-Massaker.

„Die beiden hatten alles minutiös geplant, vom Moment des Waffenkaufs bis zur Entlassung aus der Verhaftung. Ein Beweis, was Beziehungen heute in China erreichen können“, sagt Li Xianting, ein bekannter Kunstkritiker und Organisator von Ausstellungen. Die Ausstellung markierte das weltweite Debüt von fast 120 zuvor unbekannten Künstlern aus der Volksrepublik. Und sie war Auftakt eines „großen Sprungs“ in der Entwicklung der chinesischen Kunst und Kunstwelt. Später bezeichnete man sie gern als „Vorspiel zu Tiananmen“.

Vorher ...

„Es ist Aufgabe der Kunst, die Politik zu unterstützen. Kunst soll Bauern, Arbeiter und Soldaten darstellen“, hatte Mao 1943 verfügt. Li Xianting zufolge hat diese Haltung bis vor nicht allzu langer Zeit die Künste in China dominiert. Wenn man an moderne Kunst in China dachte, fiel einem dann meist auch nichts anderes ein als gesunde Bauern, lächelnde Arbeiter und idealisierte Soldaten. „Anfang der Achtziger war alles völlig von der monotonen Wiederholung solcher Motive dominiert. Selbst in den harmlosesten Bildchen der Sa-Sui-Ga-Tradition (Berge und Bäche) waren noch Gesicht oder Figur Mao Zedongs irgendwo präsent“, sagt Fei Dawei, ein chinesischer Kunstkritiker, der jetzt in Paris lebt. Die Künste waren Instrumente des Sozialismus.

„Wenn man das Ausmaß des Analphabetismus im alten China bedenkt, ist es kein Wunder, daß die visuellen Künste so effektvoll als Mittel der politischen Propaganda eingesetzt werden konnten“, so Cai Guowiang, ein chinesischer Künstler aus Japan. Und mit der Kulturrevolution wurde der Trend zur Propaganda noch stärker. Ein Kunstprofessor erinnert sich: „Anfang der sechziger Jahre war eines meiner erfolgreichsten Bilder ein Riesenschinken, der ,Mao und die Bauern‘ darstellte. Die Massen liebten es, obwohl sogar Maos Frau fand, daß dies etwas schwache Motive für ein Kunstwerk seien.“

Ein Dozent des Kunstinstituts erzählt: „Damals schlossen sich fast alle Studenten den Roten Garden an. Unterricht gab es nicht mehr. Überall im Institut wurden Barrieren aufgebaut. Lehrer wurden ,Rindviecher‘ genannt und in Institutsgebäude eingesperrt. Künstlern, die sich mit Frauenportraits beschäftigten, wurde gesagt: Bauern haben mehr Energie. Wer Blumen malte, dem wurde gesagt: Die Arbeiter haben keine Zeit, sich an Blumen zu erfreuen. Ästhetisches Gefühl, künstlerische Imagination, Individualität – alles, was aus der inneren Welt des Künstlers kommt und nach Ausdruck verlangt, wurde unterdrückt.“

Selbst als sich die Dinge nach Ende der Kulturrevolution etwas lockerten, blieb offene politische Kritik weiterhin verboten, und auch der menschliche Akt blieb tabu. Eine Ausstellung der Shin- Shin-Gruppe, die politische Kunst machte, wurde 1979 geschlossen, ein Wandgemälde im Flughafengebäude von Peking, auf dem nackte Menschen zu sehen waren, mußte wieder übermalt werden.

Anfang der Achtziger war der Trend weg vom sozialistischen Realismus dennoch fast Mainstream geworden. Es gab zahlreiche Ausstellungen, und viele neue Kunstzeitschriften erschienen. Die Rezeption vor allem „westlicher“ Kunst setzte mit Macht ein. An der Zentralakademie der Künste organisierte Fai Dawei eine wöchentliche Präsentation moderner Kunst – 80 Prozent der Künstler waren Ausländer. Viele von ihnen versuchten sich mit ihren Arbeiten an einer Erweiterung des Dialogs um Kunst und Gesellschaft zu beteiligen – manchmal mit Erfolg.

Nachher ...

Aber nicht selten wurden ihre Arbeiten von den Konservativen im Kulturministerium abgelehnt, Ausstellungen verboten und Reproduktionen konfisziert. Jeder Schritt vorwärts wurde von jemand anderem an einem anderen Ort mit einem Schritt rückwärts bezahlt. Dann kam die Ausstellung im Februar 1989 – und als die Kunst Chinas gerade anfing, wirklich interessant, lebendig und gar explosiv zu werden, kam Tiananmen. Nach dem Massaker vom Tiananmen gingen viele Künstler in den Untergrund, andere verließen das Land. Die Kunstszene fiel in tiefe Depression und erholte sich auch nach Einführung einer etwas weicheren Regierungslinie nicht so schnell. Draußen jedoch entwickelte sich ein regelrechtes Chinafieber. Weltweit fanden große Gruppenausstellungen statt, und ein ausländischer Kritiker bemerkte: „Das hier ist wie New York in den Sechzigern.“

„Nicht wenige Künstler machten vor allem wegen des Geldes mit“, berichtete ein Angestellter der bekanntesten chinesischen Kunstzeitschrift Kunst. Ausländische Käufer waren bereit, viel Geld auszugeben. „Eine Auktion war in Hongkong angesetzt. Ich erinnere mich, daß ich versuchte, einen Katalog in die Hände zu kriegen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was ich für meine eigenen Bilder verlangen könnte“, sagte ein Redakteur. Eine Arbeit für 500 US-Dollar zu verkaufen bedeutete sorgenfreies, wenn auch einfaches Leben für ein ganzes Jahr. Aber 2.000 – und so viel

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wurde zunehmend gezahlt – hieß, das Jahr und noch ein schickes Auto dazu zu haben. „Wer es zum offiziellen Künstler gebracht hatte, dem lachte die Sonne. Das Leben schien sicher und lang. Man kriegte ein Monatsgehalt von 200 bis 300 Yuan plus mietfreies Wohnen. Mit den Sorgen war es vorbei, das Leben war einfach“, so ein Professor der Zentralakademie der Künste in Peking. Durch den dramatischen Anstieg der Lebenshaltungskosten jedoch fühlten sich selbst die offiziellen Künstler zunehmend genötigt, direkt an ausländische Kunden zu verkaufen.

Freie Künstler ohne offizielle Absegnung hatten es sehr viel schwerer. Michaela, die deutsche Frau des Malers Fang Lijun, erzählte: „Mein Mann nannte sich zwar ,Künstler‘, aber er verkaufte jahrelang nicht eine Arbeit. Bis Ende der achtziger Jahre wohnte er bei Freunden und lebte von Kohl und Reis.“

Der Markt

Auf einer Auktion in Hongkong Ende September 1993 wurde ein Bild von Liu Yuyi für 836.000 Hongkong-Dollar verkauft, die größte Summe, die je für ein Bild eines Künstlers aus der Volksrepublik gezahlt wurde. Das Gemälde „Lianxiao“ zeigt die Herbstfeier des ersten Jahrestages der Volksrepublik: Im Vordergrund Mao, Tschou En-lai und Deng Xiao Ping, umgeben von Hunderten von Gesichtern anderer Größen der Zeit. Der Hongkonger Kunsthändler Woo Man Kai gab Auskunft: „Das Bild war eines von denen, die lange im Mao-Zedong- Gedächtnissaal hingen. Zu Maos hunderstem Geburtstag gab der Staat eine größere Version desselben Bildes in Auftrag und beschloß, das Original zu Geld zu machen.“ Etwa zehn Leute boten eifrigst mit. „Leute aus Taiwan, Thailand und Hongkong. Kan Lei Lai, ein Geschäftsmann, der mit dem Hongkonger ,Golden Lions‘-Textilunternehmen ein Vermögen gemacht hat, hatte Erfolg. Er fühlte sich offenbar enorm bestätigt in seinen millionenschweren Geschäften mit der Volksrepublik.“

Woo Man Kai organisierte im August 1992 die erste Auktion moderner chinesischer Kunst, die je in Peking abgehalten wurde. Im Dezember 1993 folgte eine in Tientsin. Die Preise stiegen schnell. Ein Bild, das 1990 vielleicht 200 US- Dollar brachte, wurde Ende 1992 leicht für 2.000 verkauft, eine Verzehnfachung des Preises in zwei Jahren. Der Popkünstler Wang Guangyi verkaufte kürzlich ein Gemälde für 30.000 US-Dollar.

Die Hongkonger Galerie HanartTZ ist seit vielen Jahren ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des chinesischen Kunstmarktes. Ihr Besitzer Jang Sun Leng: „Wir hatten Pläne, die 1989er Peking-Ausstellung nach Hongkong zu holen, aber das fiel wegen des Massakers ins Wasser. Immerhin hat sich die offizielle Linie, was die Kunst betrifft, inzwischen gelockert, und Li Xianting hat eine Post-1989-Ausstellung zusammengestellt, die Ende 1993 in Hongkong gezeigt wurde.“ Zur Zeit ist diese Ausstellung in Australien und den Vereinigten Staaten unterwegs. Jang Sun Leng meint: „Die Leute werden über die Inhalte der Arbeiten staunen, über den neuen Geist einer neuen Generation.“ Über dem großen Ausstellungsraum der Galerie liegt der exklusive China-Club. Sein Besitzer David Tang ist selbst eifriger Sammler moderner Kunst und ein wichtiger Mäzen. Die Mitglieder seines Clubs rekrutieren sich hauptsächlich aus der Hongkonger Kunst-, Medien- und Yuppie- Szene. Hier herrscht fast die Atmosphäre eines Salons, man diskutiert und ist dabei sehr „in“. Restaurant, Treppenhaus und Bar hängen voll moderner chinesischer Kunst. Aber wie leben die Künstler, unter welchen Bedingungen produzieren sie ihre Kunst?

Die Künstler

Jeder ausländische Journalist, der nach Peking kommt, wird gefragt, ob er schon in Yuanmingyuan gewesen ist. Yuanmingyuan ist berühmt geworden. Die Mieten sind niedrig, und etwa fünfzig Künstler und Schriftsteller aus den verschiedensten Provinzen Chinas haben sich hier niedergelassen und versuchen das Bohèmien-Leben.

Ich besuchte Fang Lijun in seinem Studio. „Ich war noch ein Kind, als die Kulturrevolution losging und mein Großvater als ,Grundbesitzer‘ denunziert wurde. Nach diesem Schrecken hatte ich Angst, das Haus zu verlassen. Und ich machte nichts anderes, als Bilder zu malen und zu zeichnen“, beschreibt er die Anfänge seiner Kunst. „Nach Tiananmen haben viele Künstler aufgehört zu arbeiten. Aber ich gebe nicht auf. Ich empfinde es als meine Aufgabe, den Menschen mit meiner Kunst zu erkunden.“ Nach dem neuen Kommerzgeist in der Kunstwelt gefragt, antwortet er philosophisch. „Wir müssen alle irgendwann einmal Geld verdienen. Die Geister scheiden sich da, wo die einen nichts anderes mehr können und die anderen, sobald sie haben, was sie brauchen, wieder das tun, was sie wirklich wollen.“

Ich sprach mit einem anderen Künstler, dessen Ausstellung gerade vorbereitet wurde. „Als erstes zeigst du deine Arbeiten dem Manager der Galerie. Wenn die Politik in einer Arbeit allzu deutlich ist, fliegt sie raus“, sagte er. Seine Bilder zeigen eine Mischung aus chinesischen Nationalfahnen und chinesischer Schrift. Die Entscheidung, welche Arbeiten gezeigt werden, war noch nicht abgeschlossen. Er erzählte mir von einem Bild mit dem Titel „Es gibt keine Zeiger auf der sowjetischen Uhr“, denn, so sagte er mit einem Blick ins Weite, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei dort die Zeit stehengeblieben.

Das Leben in Yuanmingyuan ist nicht etwa einfach. Die Lebensbedingungen sind primitiv, und unter den Künstlern herrschen Eifersucht und Neid. Die jahrzehntelang geübten Untugenden der „Wachsamkeit“ machen sich bemerkbar, sobald jemand aus der Reihe tanzt oder zu hoch hinauf kommt. Die hier teils geübten Formen des Zusammenlebens sind nicht alle legal, und Informanten finden sich überall.

Es gibt nicht nur die Kolonie von Yuanmingyuan als erkennbare Gruppe. Die Organisation Shinka To Chou ist eine neue Gruppe, deren Mitglieder keine Kunstschule besucht haben. Sie treffen sich regelmäßig zu Diskussionen, ihr künstlerisches Anliegen gründet in mathematischer Logik und Analyse. Ihre Arbeiten nähern sich oft grafischen Darstellungen von Statistiken und Schaubildern.

Viele Künstler arbeiten einfach für sich, und nicht jeder läßt sich eindeutig einer Gruppe zuordnen. Aber man steht auch nicht völlig außerhalb. Vor allem die Kunstkritiker bemühen sich darum, die neue chinesische Kunst einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Li Xianting, der seinerzeit die 1989er Ausstellung organisierte, reist in ganz China herum, um neue Künstler zu entdecken. „Ich finde viele junge Maler und helfe, sie bekannt zu machen“, sagt er. „Aber darum allein geht es nicht. Es geht mir auch darum, das kulturelle Klima zu verändern, damit die Menschen Chinas neue Erfahrungen machen können.“

Sachiko Tamashige lebt in London als freie Journalistin und Kunstkritikerin. 1993 reiste sie aus Anlaß der Pekinger Ausstellung von Gilbert und George, britischen Malern und Performancekünstlern, nach China und sah sich in der Kunstwelt um.