„Scheiß-Balladur“: Paris im Rausch des Protests

■ Neue Großdemonstrationen französischer Jugendlicher im ganzen Land / In Paris wächst die Angst vor Gewalt / Zwei Demonstranten nach Algerien abgeschoben

Paris (taz) – Balladur – Ordure – die Parole, die den Namen des französischen Premierministers auf „Müll“ reimt, macht die Runde durch das Land. Gestern hallte sie durch die Straßen von Paris, wo allein nach den notorisch niedrigen Polizeischätzungen 40.000 SchülerInnen und StudentInnen gegen Niedriglöhne für Jugendliche demonstrierten. Begleitet wurden sie von einem mit 3.300 Mann ungewöhnlich großen Polizeiaufgebot in Uniform und Zivil. Auch in Lyon demonstrierten über 10.000 Menschen. Um Mulhouse im Elsaß blockierten Demonstranten mehrere Autobahnzufahrten.

Die Spannung in der französischen Hauptstadt war vor dem nationalen Aktionstag stündlich gestiegen. Dafür sorgte vor allem Innenminister Charles Pasqua, der öffentlich angekündigt hatte, er erwarte „tausend Randalierer“. Das zeigte Wirkung: Geschäfte im Pariser Stadtzentrum verriegelten mittags ihre Türen, zwölf Metrostationen wurden gesperrt. Und die erst vor wenigen Wochen entstandene „Nationale Koordination“, die im Zentrum der Bewegung steht, überlegt, einen Ordnungsdienst einzurichten.

Der Typ des „Randalierers“ wird von der Polizei als der eines arbeitslosen jungen Mannes aus der Vorstadt mit Bereitschaft zum Plündern dargestellt. Die Überraschung war groß, als die Daten der ersten festgenommenen Jugendlichen bekannt wurden: gute Schüler ohne Vorstrafen und mit Wohnsitzen im Stadtzentrum. Mitte dieser Woche ging das Bild von acht im Schnellverfahren verurteilten „Randalierern“ aus der westfranzösischen Stadt Nantes durch die Medien. Die in Handschellen und ohne Balken vor dem Gesicht gezeigten Jugendlichen wurden wegen Steinwürfen zu Strafen zwischen Arbeitseinsätzen und mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Seitdem reißen in Nantes die nächtlichen Straßenschlachten nicht mehr ab.

Aus der zweiten Hochburg der Jugendbewegung, Lyon, schob das Innenministerium in dieser Woche zwei Demonstranten nach Algerien ab. Der 18jährige Mouloud lebte seit 12 Jahren, der 19jährige Abdelhakim seit fünf Jahren in Frankreich. Sie waren am 21. März bei einer Straßenschlacht festgenommen worden. 24 Stunden später brachte man sie aus Gründen der „Staatssicherheit“ in Handschellen auf die Fähre.

Angesichts zunehmender Polizeigewalt – das Fernsehen bringt allabendlich neue Knüppel- und Wasserwerfereinsätze – wollen verschiedene Menschenrechtsorganisationen nun „Weißhelme“ als Beobachter zu den Demonstrationen entsenden. Das rechte Boulevardblatt France-Soir spekulierte gestern bereits, daß Premierminister Balladur der Leidtragende wäre, wenn das „Blut von jungen Demonstranten“ fließen sollte. Dorothea Hahn