Ich bin meine Körpermasse

■ "Man soll nicht zweifeln, daß Gutes aus Wasser und Schlamm entsteht". Helen Chadwicks chirurgische Meisterwerke im Essener Folkwang Museum

Das Objekt ist subtil und es antwortet nicht. Also trabt die Schulklasse eiligen Schritts geschlossen an den Arbeiten von Helen Chadwick vorbei. Der anämische Kunsterzieher kann aufatmen und die frühimpressionistische Mußestunde mit seinen pubertierenden Zöglingen ohne Widrigkeiten ein paar Meter weiter fortsetzen.

Am besten vorbereitet auf die „Effluvia“-Schau ist, wer das dort versammelte Bildmaterial mithilfe seines Lateinwörterbuchs als „Mündung, Ausfluß“ übersetzt, schon immer gerne im Schlamm gespielt hat und von der Leidenschaft, glitschige Regenwürmer auf Lichtdurchlässigkeit zu überprüfen, noch immer nicht lassen kann: Das Folkwang Museum zeigt Werkgruppen einer der provokantesten englischen Künstlerinnen aus den Jahren 1989-93: Polaroid-Fotografien, Dialeuchtkästen und Skulpturen mit dem lautmalerischen Titel „Piss Flowers“.

Es ist die erste Einzelausstellung der 1953 geborenen Londonerin in einem deutschen Museum. Die Retrospektive verteilt sich auf sechs kleine Räume. Bedauerlich ist dabei nur, daß Helen Chadwicks Inszenierungen erotischer Potenz und proteischer Sexualität just mit ihren Bildrahmen aufhören wollen. Daß sich räumliches Umfeld aber nicht so einfach ignorieren läßt, beweist dafür der mittenmang plätschernde Georg-Minne-Brunnen.

Das, was Chadwicks Arbeiten andererseits so provokant macht, ist weniger an formal innovativen Aspekten festzumachen (die Präsentation ist wieder mal nur auf Wandbehang im Sinne einer Flächendeckung aus), als an dem Spiel der Inszenierung, das sie für ihr Sujet wählt: Ob das Gebotene verführerisch oder abstoßend erlebt wird, bleibt subjektiv, doch diese Ambiguität ist von Helen Chadwick beabsichtigt. Die Künstlerin schöpft aus einem uferlosen Sinnlichkeits- Vokabular, ob sich – wie bei den „Meat Abstract“-Fotos – kleine fleischige Lämmerzungen auf feinstem rostrotem Leder wie schlaffe Gemächte aneinanderschmiegen, oder der Blick in eine rote Fleischröhre für Penetrationsmetaphern steht: Immer sind die dargebotenen Organe an fließenden Stoffen oder Lederstücken so ästhetisch auf Vanitas-Darstellungen hin arrangiert, wie es sonst nur Devotionalien oder den Speisen am kalten Buffet gebührt.

Bei den großformatigen „Enfleshings“ blickt uns illuminiertes hellrotes Fleisch entgegen. Sorgfältig von allen Fettfäden und Sehnen befreit, soll das chirurgische Meisterwerk als roter Spiegel des Ich fungieren. Chadwick bringt es auf die knappe Formel: „Ich = c2. Ich bin meine Körpermasse oder mein Fleisch.“ Das Selbstporträt gewinnt eine neue Dimension, „ohne Benennung des Geschlechts und der Besonderheit des Individuums. Wir sind schließlich so viel Fleisch – heißes, pulsierendes Eingeweide.“

Die „Enfleshings“ und auch die „Meat Abstracts“, bei denen häufig eine Glühbirne die Szenerie ästhetischer Innereien komplettiert, thematisieren auf gleichem Wege die Nichtbenenn- oder Erforschbarkeit dessen, was wir am anderen begehren. Baudrillard erzählt einmal von einer Dame, die ihren Verehrer befragt, was ihn an ihr am meisten verführt habe. Als er sich für ihre Augen entschließt, hat er diese am nächsten Morgen in der Post. Das Objekt gibt sein Geheimnis nun mal nicht preis.

„Man soll nicht zweifeln, daß, irgendwie, Gutes aus Wasser und Schlamm entsteht“, entnehmen wir dem Katalog. Eine runde, glänzende Farbfotografie in einem gelackten Rahmen läßt auf eine braune Schokoladenoberfläche schauen. Was immer die Ingredienzien dieser „Bad Blooms“- Suppe sein mögen: Sie scheint zu kochen, wirft Blasen und das weit geöffnete Blütenmaul einer Orchidee wird jeden Moment in den Eruptionen der breiigen Flut versinken.

Chadwicks unkonventionelle Körper- und Geschlechterdarstellungen haben jegliches hierarchische Stereotyp von weiblich oder männlich, tierisch oder menschlich identifizierter Sexualität überwunden, sie schafft Bilder einer monströsen ungeschlechtlichen, polymorphen Sexualität. Die Vorstellung weiblichen Penisneides verblaßt vor solchen Bildern genauso wie die Vorstellung männlichen Gebärdefizits.

In einem Raum blühen Chadwicks weiße glitzernde „Piss Flowers“, zwölf an der Zahl. Seitlich von einem Scheinwerfer so angestrahlt, daß ihre Blütenblätter und ihre bizarren Blumenstempel lange Schatten werfen, bilden sie zusammen mit dem grauen Filzbelag eine leicht spacig anmutende Landschaft. Die „Piss Flowers“ sind weiß gestrichene Bronzeabgüsse, ganz prosaisch: Sie sind die Negativformen einer Schneeschmelze, die durch warme weibliche und männliche Urinbäche verursacht wurden. Helen Chadwick will ihr Werk als eine Umkehrung der menschlichen Genitalien verstanden wissen, als „eine Synthese sexueller Unterschiede durch das erotische Spiel sowohl ihrer Herstellung als auch ihrer Formen“.

Schon Bataille wandte sich gegen eine hygienische Sterilisierung der Sexualität. In seinen erotischen Erzählungen haben Pisse, Blut, Schmutz, Gestank und Kot als luststeigernde Elemente und Zeichen einer entgrenzten Sinnlichkeit einen Ehrenplatz. Helen Chadwick bricht heute zwar kein Tabu mehr, aber vielleicht bricht sie mit der Utopie: der einer individuellen Sexualität. Gilla Lörcher

Helen Chadwick: „Effluvia“. Ausstellung Folkwang Museum, Essen, noch bis zum 17. April. Zur Ausstellung ist ein Katalog (39 DM) erschienen.