Eine gewisse Warmherzigkeit

Weiteres Kabinettstückchen vom Telefonkind  ■ Von Gabriele Goettle

Es war fast wie beim vorigen Mal, wieder rief eine Frau an. Auch sie habe etwas ähnliches erlebt wie Frau Prof. M., erzählte sie. Nur durch Zufall sei sie an den Text gekommen. Prof. Wolf-Dieter N. hätte ihr die taz gebracht und gefragt, weshalb sie sich in ihrer Geschichte als Professorin ausgebe. Sie sei sich natürlich keinerlei Schuld bewußt gewesen, und erst nach dem Lesen wäre ihr klarer geworden. Als ihr und ihrem Mann Anfang 93 das alles passiert sei, habe man natürlich mit den Freunden über die Angelegenheit gesprochen, immer in der Annahme, man sei Augen- und Ohrenzeuge eines furchtbaren Kinderschicksals geworden. Und nun das! Wir verabredeten uns für den Sonntag.

Das Paar empfängt mich herzlich in seiner großzügig ausgebauten Dachwohnung. Hanne ist Übersetzerin, Ende Fünfzig und trägt einen silbernen Davidstern um den Hals, eine schwere, gediegene Kunstschmiedearbeit. Bodo ist etwas jünger, lehrt als Politologe an der FU und ist Mitherausgeber und Redakteur der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Leviathan. Wie fast bei allen Apo-Opas- und -Omas ist der Wohnung eine gewisse Treue dem einmal Erworbenen gegenüber anzumerken. Es gibt Mobiliar und andere Dinge von früher, daneben kostspieligere Neuerwerbungen von tadelloser Ästhetik. Der geräumige Livingroom wirkt weltoffen, mit integrierter offener Küche und Sitztheke fast ein wenig amerikanisch. Von der Decke hängt ein riesiger Ventilator, es gibt schöne alte Gemälde, teils mit zierlichem Kind und Windspiel, aus dem Familienbesitz des Mannes. Ansonsten aber scheint der Raum von der Frau geprägt zu sein. An der Südseite ist zwischen geblümtem Sofa und fest gepolsterten Sesseln ein rundes Tischlein gedeckt, mit weißem Porzellan, bauchiger Teekanne und Marmorkuchen. Das alles auf hohlsaumgefaßter Tischdecke aus feinem Leinen. Ich bin für sowas anfällig. Wir nehmen Platz, und die beiden beginnen mit der Erzählung ihrer Geschichte:

H: Vorweg gesagt, das Ganze dauerte vom 26.2. bis zum 9.3.93. Es war halb elf abends, ich weiß das deshalb, weil ich gerade Tagesthemen geguckt hatte, da klingelte das Telefon: das KIND! Zuerst war alles wie bei Frau Prof. M., nur wars bei mir die Babysitterin, die zu früh wegging, und nun war die Kleine – Katharina hieß sie bei uns, wie ja auch bei Ihnen – allein zu Hause, mit einer brüllenden kleineren Schwester namens Sarah, und hatte Angst. Sie sagte, den Nuckel hab ich ihr schon gegeben, und nun muß ich aufs Klo und hab Angst, im Klo ist ein Geist, und da kam dann mein Vorschlag, mach die Tür auf, ich bleibe am Telefon. Das klappte perfekt. Angst hatte sie immer noch, wir redeten ein bißchen, und ich erfuhr, daß sie in Wilmersdorf wohnt – die genaue Adresse sagte sie nicht, weil ich ja eine Fremde war, aber ihren Namen sagte sie: Katharina Cohen, sie buchstabierte es sogar – und die Mama heißt Barbara. Und nun weiß ich nicht mehr, wars beim ersten oder erst beim zweiten Telefonat, daß sie vom Papa erzählte. Ich hab ihr von meiner Tochter Franziska erzählt, Nina-Franziska, und daß die aber schon groß ist, und dann ging sie endlich schlafen.

Eine dreiviertel Stunde später rief sie wieder an. Die Mama ist noch nicht da, und die kleine Sarah weint immer noch, und ich bin sowieso traurig. Und dann kam spontan die Geschichte vom Unfall des Vaters, der nun im Himmel ist, vom betrunkenen Lastwagenfahrer auf der Kreuzung in Reinickendorf, und der Papa saß im VW – (Zwischenruf B:) ... kindlich detailliert erzählte sie das, er war mit dem Auto unterwegs, er war Professor für Kernphysik ... oder Raumfahrt ... irgend sowas, ja, Professor für Atomphysik, also wahnsinnig nett war er und klug, und jetzt ist er eben im Himmel, leider, er ist viel witziger als die Mama ... schon bald kamen Wertungen. H: Also, sie hatte offenbar ein sehr enges Verhältnis zu ihm. Sag ich – das ist ja furchtbar, von was lebt ihr denn nun – also da wußte sie: Die Mama hat Gehalt, ist ja ihrerseits Ärztin. B: Eine Lebensversicherung gabs auch noch, davon war die Rede. G: Also ich hätte mit sechs über Lebensversicherungen nichts sagen können! B: Die war überhell! – sie war durch den permanenten Druck einfach sehr intelligent geworden. H: Ja, das stimmt, sie interessierte sich auch sehr für all das, was ich tue. So kurz nach Mitternacht ging sie ins Bett, ich auch – erfüllt! Ich hatte aber gleich am anderen Tag, als ich ihm davon berichtete – er war ja in Hannover –, das Gefühl von einer Novelle. Nun, ich bin auch Romanistin, Anglistin, hab Literatur studiert usw. Mir gefiel das unheimlich. Und bis du dann von Hannover zurückkamst, da hatte ich schon drei, vier weitere Telefonate gehabt. Die Mutter von Katharina hatte ja schon morgens um 9 Uhr angerufen, um sich zu entschuldigen für die Belästigung, und da dachte ich, nun ist der Fall erledigt.

Um 11 rief Katharina an, sagt, ich würde dich so gerne sehen, komm mich doch besuchen. Ich hörte die Kleine, wie sies der Mutter zurief – Mama war in der Küche– G: Eine Zwischenfrage, Frau M. erwähnte, daß sie zu keiner Zeit die Stimme von Mutter und Kind durcheinanderredend gehört hat ... H: Das war hier auch nicht der Fall, aber es war, man kann sagen, sekündlich versetzt. Wir haben also einen Termin vereinbart, Katharina freute sich wahnsinnig, aber der Termin wurde gleich wieder umgestoßen von der Mutter mit der Erklärung, das Kind müsse am Montag ja in die Klinik zu einer kleinen Operation. Die Katharina ist schwerkrank, sagte sie, hat Nierenkrebs, ist vor einem Jahr operiert worden, und nun ist da was nachgewachsen. – Und das hat mich natürlich wahnsinnig betroffen gemacht – die arme Kleine. Nach einer Weile rief Katharina wieder an, also bis abends hatte ich vier, fünf Telefonate, und dir erzählte ich dann: Stell dir vor, der arme Wurm hat Nierenkrebs, hat nur noch eine Niere. Dann kam der Sonntag mit dem Anruf von ihr: Kannst du mich retten, ich muß ins Krankenhaus, ich will nicht! Ich habe dann natürlich sehr sanft und ernst mit ihr gesprochen, dann war es etwas besser. Und dann am Abend, glaub ich, hast du ja mit ihr gesprochen ... B: Ja, ich sagte – ah, du bist es, Katharina, ich weiß, wer du bist – ich wurde sofort akzeptiert. Und auch für mich war das kein Problem, ich sah, die Hanne ist engagiert, also gehe ich voll mit! Die Katharina hat mich natürlich um den Finger gewickelt, sofort, aber ich ließ mich auch gerne wickeln. H: Dabei wars bisweilen ja so, daß die Anrufe in diesen vierzehn Tagen durchaus störend waren. Normalerweise würden wir uns

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung

nicht derart aus unserer Arbeit rausreißen lassen, denn wenn ich einen Satz weglege, dann muß ich nachher wieder zurück in den Paragraphen, und das kostet mich furchtbar viel Zeit, das hasse ich! B: Gleichzeitig waren wir messerscharf drauf, das ist die Wahrheit!

H: Und ab dem 1.3., das war ein Montag, war sie ja dann in der Klinik und rief von dort aus an, da wurde es dann sehr intensiv. B: Nicht nur intensiv, sondern auch interessant. Wir wurden detailliert informiert über den Gesundheitszustand, fast aus dem OP heraus, möchte ich sagen. Man merkte, sie hängt am Tropf und ihr Leben an einem seidenen Faden ... H: Zunehmend an einem seidenen Faden. Die Mutter meldete, daß die Operation doch schwerer verlief als erwartet, der neue Tumor war mandarinengroß, mußte chemotherapeutisch behandelt werden. B: Es gab drei Stufen des Schocks: Erste Stufe war die Operation selbst, wo es ja nur noch die eine Niere gab, zweitens war eine Nachoperation notwendig, wegen starker Blutungen, und der dritte Schock, die anlaufende Chemotherapie. Daß man also ein Kind mit 40 Grad Fieber auch noch in einen chemotherapeutischen Ofen steckt, das war eine schreckliche Tatsache. H: Sie hat quasi alles mitgeteilt, morgens um acht fing der Tag an, um elfe, um zwölfe gings weiter, und dann ... B: verstarb sie quasi vor unseren Ohren – H: Immer ein bißchen. H: (lacht haltlos) Sie hatte in unserem Beisein zwei Herzstillstände! H: Die Mutter rief an, erzählte was von 40 Minuten, von Sauerstoff, Wiederbelebung, bereits eine Stunde später sprach sie schon wieder mit uns. B: (hingehaucht) Aber mit so 'nem Stimmchen. H: Und ich sagte zu ihr, weißt du denn, daß dir die Ärzte gerade Atemluft eingegeben haben? Sie sagte, ja, das steht alles hier, jetzt gehts schon besser, die Mama ist da und bleibt über Nacht. Um elf Uhr abends riefen sie an zum Gutenachtsagen, alle beide, nacheinander. B: Zunehmend haben ja wir die Gespräche bestritten, denn de facto wurde sie schwach und schwächer, das Stimmchen erstarb, nach der Operation sagte sie – hallo (ahmt das ersterbende Stimmchen nach)das ist für mich der dominierende Resteindruck ... hallo ... ich bins – Katharina – Das hör ich noch ganz genau, und es fehlt mir auch, bis heute!!! H: Sag mir was, sagte sie immer. B: Und wir haben auf Teufel komm raus erzählt. G: Das ist ja eine Liebesgeschichte! Beide: Unbedingt! B: Und aufgrund dessen kann ich mir nun gut vorstellen, weshalb ehrbare Frauen einen Lebenslänglichen heiraten, der im Gefängnis sitzt. H: Wir haben eine ganz intensive Beziehung zu ihr aufgebaut, wir haben ihr, als es ihr schlecht ging, ausgemalt, was wir alles mit ihr machen, wenn sie wieder gesund ist, ich hab ihr von unserer Terrasse hier erzählt, sagte, da kannst du in der Sonne sitzen und dich erholen, spielen. Das fand sie ganz wunderbar. B: Ein zweites wichtiges Thema war: Besucht Ihr mich? G: Und wie wurde das abgewehrt? B: Durch den Tod. H: Nein! – ja, letztlich schon, aber zunächst einmal durch die Mutter, Zutritt auf der Intensivstation nur für enge Angehörige, und sowieso, bei der Schwäche ... einmal sagte sie: Heute sind die Zwillinge da! Die hatte sie mitgeschleppt, samt Sarah, und sie sagte, die sind furchtbar, sie müssen jetzt wieder raus auf den Flur. B: Mehr und mehr schaffte es die Mutter, uns deutlich zu machen, es steht auf Messers Schneide, ob sie überleben wird. Es wirkte so, als seien wir der äußerste Halt, den sie hat, als würden wir das Kind gleichsam an der Hand festhalten ... H: Und deshalb sagte die Mutter auch: Bitte kommen Sie ins Krankenhaus. B: Sie sagte es nicht wortwörtlich, das wir die letzte Chance sind für Katharina, aber sie hats uns so hingespielt. H: Deshalb ja auch unsere Überlegung später, als sie sich überhaupt nicht mehr meldete, daß sie Hals über Kopf nach Israel gezogen ist – denn sie hat ja vorher intensiv mit uns sich ausgetauscht, und ich hatte viele Gespräche mit ihr, so von Frau zu Frau, und sie rief immer an, wenn sie nach Hause kam, wenn sie bei der Katharina gewesen war – also ich sag das so, als gäbs das Kind, aber ich kann nicht anders! Wir sprachen auch viel über politische Geschehnisse, sie war so unglaublich belesen – und als sie dann hier war, war sie so sprachlos! So am 8. oder 9.3. kam sie nachmittags zu Besuch. Es war eine andere Person als die, die ich am Telefon kannte. Dort war sie toll, hier auf dem Stuhl war sie drög. B: Verbal war sie prima, am Telefon, hier war sie schüchtern ... verklemmt, hatte diese Made auf dem Schoß, wie Sie es auch beschreiben. H: Hier war sie wahrhaft tief verklemmt. B: Enttäuschend! Am Telefon war sie so souverän, so voller Distanz, auch zu ihrer eigenen Mutterrolle. Um so überraschender war, daß sie eigentlich mehr einem ... H: Muttchen ähnelte. War ein Muttertyp irgendwie, sie war zugedeckt mit dem Kind. B: Bilka-Hausfrau! Oder so, eindeutig! G: Das ist ihr wohlkalkuliertes Outfit, wenn sie leibhaftig erscheint. B: Es ist das Tolle, daß sie nicht versucht hat, als schlanke, jüdische, schwarzhaarige Intellektuelle aufzutreten! H: Nein. B: ... und alle unsere Vorurteile zu bedienen, sondern, daß sie einen Schock einbaut. G: Einen wirklichen Schock offenbar, denn wer käme schon auf die Idee, das ganze Gegenteil zu bedienen? H: Das ist es. Aber ihre Sprache ... B: Eben! Und vor allem, ihre Augen waren so flach. H: Ihr sprachliches Outfit am Telefon war perfekt, das war eben die totale Diskrepanz! Hier war sie sprachlos und dröge, ja, ich wollte sehr bald, daß sie wieder geht. G: Andererseits, die Erwartungshaltung und die Klischeevorstellungen, die sich daran knüpfen – das ist ja nichts, womit derjenige, der erwartet wird, irgendwas zu tun hat. H: Überhaupt nicht, nein! Er ist wirklich nicht dafür verantwortlich. B: Insofern wars auch keine Hollywood-Geschichte, das Kind war auch kein schönes Kind. Aber so sehen Kinder eben aus, die Schulen sind voll davon. (Hanne holt ein in der Mitte durchgerissenes Farbfoto vom Kind) Das gab uns die Mutter, er hats dann später versehentlich durchgerissen. Also, ich fand sie ganz fremd ... allerdings, das mit den israelischen Bergen im Hintergrund war dann natürlich wieder überzeugend. Aber was hier abgebildet ist, ist nicht jenes weiche, differenzierte Wesen, das am Telefon war. G: Bei mir war das Kind ja schwarzhäutig. H: Das find ich ja auch hochüberraschend. B: Besonders bemerkenswert finde ich im nachhinein die Inszenierung des Finales. Unser Besuch stand ja bevor, Katharina sagte: Einmal werde ich noch wach ... H: Um halb elf abends rief sie noch an, am 12. März, einmal schlafen und dann seh ich euch! B: Wir hatten ein Stofftier gekauft. Und dann am nächsten Tag, ein Samstag, so gegen halb neun, kommt der Anruf der Mutter mit der Todesbotschaft. Punkt, Ende, aus! Sie ließ uns roh, roh runterfallen aus dem 4. Stock – platsch! H: Und zwar sagte sie zum ersten Mal nicht mehr Katharina, sondern sie sagte: Meine Tochter ist heute nacht gestorben. Da ringt man nach Worten, nicht? Das war ja unendlich traurig. Und ich fragte, was machen sie jetzt, sie sagte: Ich bin noch in der Klinik, gehe jetzt nach Hause. Ich melde mich wieder. Das war das letzte, was wir von ihr gehört haben. Die angegebene Telefonnummer brachte nichts, niemand hob je ab, Post an Frau Cohen in die Holsteinische Straße blieb unbeantwortet. Wir dachten, sie hat Berlin verlassen in ihrem Kummer. Nach zwei bis drei Wochen suchten wir das angegebene Haus auf, eine Familie Cohen war nicht verzeichnet.

G: Also, das Auftauchen der Mutter scheint mir etwas zu kurz gekommen zu sein in der Geschichte, sie ist ja die Hauptperson. H: Stimmt. Also, sie kam eigentlich, um sich zu bedanken und vorzustellen, sie hat das Wort vorstellen benutzt. Sie sagte das nicht wörtlich, aber machte andererseits auch deutlich, daß jetzt, wo wir so einen intensiven Kontakt zu ihrer Tochter haben, sie natürlich auch hochgradig daran interessiert ist, zu wissen, mit wem sie es zu tun hat. G: Also Überprüfung des Umgangs ihrer Tochter. H: Das war es, und deshalb fanden wir sie auch so souverän ...B: Neinnein, sie machte das nicht nur souverän, sondern voller Verantwortungsbewußtsein. H: Sicher, nur, als sie dann hier saß, war das eben alles wie weggeblasen, erstmal tat sie mir natürlich wahnsinnig leid – du warst anfangs auch dabei und mußtest dann weg, hattest ja Vorlesung an diesem Nachmittag. B: Ehrlich gesagt, ich habe an Ort und Stelle versucht, meine Vorurteile zu bekämpfen, es gelang aber nicht. H: Ich fragte mich, wie kommt die Frau zu so einem Kind ... und zu dem Professor – das habe ich vorurteilsvoll gedacht, gebe ich zu – denn sie fiel vollkommen raus aus dem Muster der Professorengattin, von denen ich natürlich eine Phalanx kenne. Sie hatte, wie ich vorhin schon sagte, mehr was von einem ... G: Muttertier? H: Eindeutig! B: Das ist der präzise Begriff. Ich dachte, das ist bei Naturwissenschaftlern offensichtlich anders, gut, so ist das Leben, Hauptsache, sie war mit ihren Kindern beim verstorbenen Mann anerkannt ... H: Er hat sich dann verabschiedet, weil er ja zur Lehrveranstaltung mußte, und sie blieb und wäre ewig geblieben, fürchte ich, wenn ich sie nicht hinauskomplimentiert hätte. B: Sie hat uns ja dann später schließlich auch brutal fallenlassen. Also, dieses Ende der Geschichte ist etwas, was mir Interpretationsschwierigkeiten macht, ihre Befriedigung kann doch unmöglich in der Schadenfreude liegen, das würde ja voraussetzen, daß sie uns – grad nach der Todesnachricht – hätte beobachten können. Es muß was anderes sein! H: Es geht ihr mehr um die Nähe, die sie herstellen kann, sie war mit uns – regelrecht befreundet, möchte ich mal sagen, ich hatte sogar überlegt, ob wir die arme Witwe nicht ab und zu einladen, wenn wir Leute dahaben zum Essen ... G: Dem hat sie entgegengewirkt. H: Genau, das ist ihr gelungen! G: Eine solche Geschichte geht nicht zwischen Erwachsenen, wahrscheinlich nicht mal zwischen Liebenden, es braucht dieses Hirngespinst, ein Kind ohne Arg und Falsch, das ist die einzige Konstruktion, die so eine Intimität und Nähe, auch Liebe und Zärtlichkeit erlaubt, sowas läßt sich ja sonst kaum herstellen, schon gar nicht auf Distanz. B: Ich glaube, die Offenheit und Intimität, die vorherrschten, die fand ich eher begrenzt, denn wir zeigten uns ja von unserer höchst normativen, wohlanständigen Seite. H: Aber wir habens doch so heftig empfunden – du hast doch sogar schon, wenn du von der Uni kamst ... B: ... Psst ... Ich wills mal so formulieren, ich glaube, sie hat es verstanden, in uns das Gute locker zu machen, in einer ungeahnten Weise. Das, was Sie meinen, das kenne ich eher aus einer anderen Situation: Als ich früher noch per Anhalter gefahren bin oder dann auch selber Anhalter mitgenommen habe, da gabs immer wieder diese Situation, daß man überraschenderweise, für eine ganz kurze Zeitspanne, es mit Leuten zu tun hatte, die wußten, man sieht sich nie wieder, also erzählten sie sich alle, alles – sei es, einer hatte fünf Frauen gleichzeitig oder gar keine – jedenfalls gabs diesen merkwürdigen Geständniszwang, basierend nicht auf intimer Bekanntheit miteinander, sondern, im Gegenteil, auf extremer Fremdheit und Unkenntnis. H: Aber wir wußten ja gar nichts von der begrenzten Zeitdauer der Beziehung. Nein, die Frau war unwahrscheinlich differenziert, zum Beispiel, als sie als Katharina anrief und sagte: Die Mama hat grade geweint an meinem Bett, jetzt ist sie mit dem Doktor auf dem Flur, ich muß dich was fragen, was die Mama nicht wissen darf, weil sie sonst wieder weinen muß – können kleine Kinder auch sterben? Also, wir führten da unglaublich tiefe, jenseitige Gespräche, und daß sie das machte – als Katharina –, während sie sich selber auf den Flur stellte, das beweist doch grade, daß so ein Gespräch mit der Mutter zum Scheitern verurteilt wäre.

G: Was mich jetzt noch interessieren würde, das ist in der abstrakten Zusammenfassung, die Sie gemacht haben, etwas untergegangen – nämlich Ihr Part am Telefon. B: Es fällt mir schwer, den etwas konkreter wiederzugeben, also, es war, wie gesagt, so, daß sie es verstand, in mir eine Welle des Entgegenkommens und der Mildtätigkeit, eine des Interesses und Wohlwollens locker zu machen. G: Aber wie hat sie sich geäußert, diese Welle? B: Also, sie ist am Telefon: Hallo, ich bins, Katharina. Bin grade operiert worden. SAG MAL! UND WIE GEHTS DIR? Nicht gut, kannst du mir was erzählen? Also mußte ich was erzählen, hab irgendeine Geschichte erfunden, aus dem Stand. Auch Gutenachtgeschichten, HÖRST DU MICH NOCH? Ja, ich höre dich noch. Und dann spielte sie mir freundlich das eine oder andere Wort zurück und stellte mir persönliche Fragen, die ich wahrscheinlich nur zu gerne beantwortet habe. Sie war ironisch, und was mich besonders anzog, sie hatte zu allem, was sie machte, eine erstaunliche Distanz, freute sich über jeden kleinen Witz. Ganz typisch für sie ist, sie sagte häufig: Das ist doch komisch. Wenn ich eine Geschichte erzähle, dann ist die mindestens doppelbödig. Also erstens erzähle ich eine Geschichte, die, zweitens, niemand glaubt, drittens aber natürlich umso wichtiger ist. Das machte sie nur zu gerne mit. Also, eine Gutenachtgeschichte, von mir erfunden, mit einem Igel. Die war in der Intention erzählt, daß sie einschläft, aber da sie intelligent ist, blieb sie natürlich wach. G: Wie ging denn die, ich möchte sie auch mal hören. G: Na ungefähr, das wird doch gehen ... B: Ungefähr ... aber ... ich muß sie neu erfinden: Also der Igel hat ja ne ganz besondere Eigenart, er ist erstens sehr zutraulich, wohnt in der Nähe des Menschen und kann darüber hinaus etwas ganz Großartiges, nämlich schlafen. Schlafen kann er ganz einmalig, er fällt in den Winterschlaf, vorher hat er sich einen dicken Bauch angefressen. Und ich erzähle also vom Winterschlaf, wie lang das geht, und sie solle sich das einmal vorstellen. Sie sagte, sie zieht die Decke etwas ran und rollt sich ein, gleich schläft sie. Und ich sag, denk mal, du schläfst jetzt nicht fünf Minuten, nicht eine Stunde, nicht eine Nacht, du schläfst den ganzen Winter, und wenn du wieder aufwachst, hast du keinen dicken Bauch mehr, sondern einen dünnen usw. Und dann schlief sie ja immer brav ein am Ende. Mir zuliebe machte sie das perfekt. H: Aber von dem Igel muß man noch mehr erzählen. Wir haben doch einen gekauft, ein Stofftierchen, ein wunderschönes. Das hatten wir bis vor zwei Monaten, jetzt ist es verschenkt, hat jemand Zwillinge gekriegt. B: Die ganze Katharinageschichte hat so eine ... doppelbödige Barmherzigkeit ... H: Ja, und unsere normativen Vorstellungen ... andererseits, dazu stehe ich schon, daß sie mir am Telefon so sehr gefiel und nachher dann nicht mehr. An der Erwartung, die ich ihr entgegenbrachte – finde ich –, daran war sie ja heftig beteiligt. Wenn sie am Telefon so differenziert mit mir spricht, und hinterher ist sie dann wie eine Kartoffel, im Gespräch ...

G: Und wie würden Sie das jetzt unter Ihrem fachlichen Blickwinkel betrachten? B: Keine Ahnung, habe ich noch nicht überlegt. Bislang haben wir es abgetan, mit dem Stichwort Schizophrenie. Es hat mich auch nicht interessiert, so wie Sie auch, also: Wie ist das darzustellen – und Darstellung hat ja auch immer was mit der Frage nach der Wahrheit zu tun – was ist Wahrheit an dieser Geschichte? Mir scheint, die Frau taucht in drei Rollen auf: als Kartoffel, als Mutter und als sterbendes Kind. G: Nicht nur, denn sonst wären wir ja gar nicht so sehr darauf eingegangen, sie taucht auch als intellektuelle, emanzipierte Akademikerin auf. H: ... als Partnerin. B: Wohl wohl ... G: ... eine Rolle, die nicht zu unterschlagen ist. H: Richtig, sie geht nicht in der Mutter auf. G: Auch nicht in der Kartoffel. H: In der Kartoffel schon gar nicht, die Kartoffel geht eher in der Mutter auf, oder umgekehrt. Aber die vierte Rolle scheint mir schon irgendwie ... dazu muß ich eine kleine Geschichte erzählen: Ich kannte mal einen Studenten in Frankfurt – als ich bei Adorno und Horkheimer studierte, und die waren ja nun unser großes Vorbild, unerreichbar –, dieser Student, der war unzulänglich. Er konnte bei ihnen nicht fertigstudieren, weil er den Stoff und das alles einfach nicht beherrschte. Aber dieser Student konnte eines, er konnte sie in einer wunderbaren Weise imitieren, alles, bis hin zum Schreiben, daß es geradezu erschreckend war. Das war eben ein pathologischer Fall, und das Ganze ging schief – es gibt ja viele, die imitieren, aber er war kein Imitator, sondern er ist zerschellt an der Geschichte, das war hart! ... Und bei ihr nun kann ich mir vorstellen, sie kann die Imitation der Akademikerin perfekt ... G: Wir auch! B:(lachend) Das kann man sagen ... H: So isses! B: Wir legen so großen Wert auf ein individuelles Ego, sind aber so primitiv wie die sogenannten einfachen Leute, leichtest auszurechnen, ein paar Stichworte genügen, und schon kann man bei uns nach dem Schema Reiz und Reaktion alles locker machen ... H: Und andererseits ist sie natürlich, wenn man sie sich mal nicht als Schizophrene vorstellt, die in drei, vier Rollen auftritt, ganz unglaublich, ganz großartig, denn sie entwirft ja eine ganze Dramaturgie mit exakten Handlungsabläufen, ein psychologisch ausgeklügeltes Stück, bis hin zu einer Professorin, die mit einem Trauergebinde auf den Friedhof kommt ... B: Und analog, da sie uns eine ganze Menge zugemutet hatte und wir immer mehr liebesduselig wurden – wie ich finde –, seh ich sie richtig grinsen und sagen: Da geh ich hin mit meinem Bilka-Outfit ... G: Denn das ist eine der schlimmsten Kränkungen... B: ... sie sieht, die sind bereit, eine x-beliebige Göre mit vollen Projektionen auszustatten, eine Mutter für eine Ärztin zu halten, obwohl sie aussieht, als käme sie gerade vom Volksfest. Gut, man kann sich irren. Ich hab unlängst einen Studenten als Anhalter mitgenommen, der trug Sweatshirt, Haare bis dahin, Bart, und nach ner Weile stellte sich heraus, er ist ein Bereitschaftspolizist! (Allseits herzliches Lachen) – Wir sind natürlich nicht davor gefeit, selber doof zu sein, auch wenn wir eine fertige Geschichte durchschauen. H: Das hätte Horkheimer auch gesagt, dieses Recht hätte er für sich selber auch reklamiert. Es ist ihm zwar nicht so arg oft passiert, später, aber das hätte er im Seminar sehr gut dargestellt ... B: Bei aller Neigung zur Selbstkritik, ich bin irgendwo auch ... H: Stolz auf dich? B: Nein, also: Ich kenne viele Leute, die sind vom Leben enttäuscht, oder haben nur für ihre Karriere Zeit, die würden sich auf so ein Kind niemals einlassen wollen, die lassen sich von nichts beeindrucken – also eine gewisse Warmherzigkeit von der Hanne – die gefällt mir an ihr schon sehr gut... H: (etwas gequält) Wenn man das nicht so ganz verliert, das ist ja nicht schlimm, oder?