Der Krieg in Bosnien ist noch nicht vorbei

Noch immer bedrohen serbische Stellungen die Menschen in den eingeschlossenen Städten / Die Bevölkerung leidet Hunger, notdürftig wird Landwirtschaft betrieben / Die Menschen bemühen sich um „Normalität“  ■ Aus Celić Erich Rathfelder

„Alle reden vom Frieden, aber schauen Sie sich dies an“, flüstert Sead Terić und deutet auf die Frontlinie vor uns. Die Häuser haben keine Dächer mehr, und die Fensterhöhlen sind schwarz von Ruß. Hier an der Demarkationslinie bei Brčko, in der Kleinstadt Celić in Ostbosnien, ist der Krieg mit der serbisch-bosnischen Armee weiterhin blutige Realität.

„Jeden Tag schießen sie morgens wie abends Granaten auf unser Städtchen, manchmal waren es hundert Stück. Seit der Wende in Sarajevo, seit dem Nato-Ultimatum vom 21. Februar, sind es etwas weniger geworden“, fügt Sead Terić, der 35jährige Kommandant der bosnischen Armee in Celić, hinzu. „Seit fast zwei Jahren werden wir nun belagert, doch wir haben seitdem keinen Quadratmeter an Boden verloren“, sagt er, und ein bißchen Stolz schwingt in seiner Stimme mit, auch als er erzählt, daß „wir die Waffen für die Verteidigung in manchen Nächten von dem Gegner holten“.

Siebentausend Einwohner lebten einst in diesem Ort. Heute sind es nur noch dreitausend. Viele der Bewohner sind zu Beginn des Krieges im April 1992 vor den anrückenden Tschetniks und den rotbekäppten Truppen des berüchtigten serbischen Freischärlerführers Captain Dragan geflohen. Doch die zweitausend Alteinwohner und die tausend Flüchtlinge aus benachbarten Dörfern, die hiergeblieben sind, krallen sich fest an die Ruinen des einstmals blühenden Ortes. Denn die hügelige Landschaft ist fruchtbar, und der Ort war einstmals berühmt wegen der Fruchtsäfte, die hier in der Fabrik produziert worden sind.

Die Häuser sind schmuck, und an den von blühenden Bäumen umgebenen Gemüsegärten läßt sich die wohlhabende, ländliche Idylle erahnen, die es hier einmal gegeben haben muß. „Uns bringt hier keiner weg, lieber werde ich sterben, als Flüchtling zu werden“, sagt Huska Omercević. Nachdem er acht Jahre in der Schweiz als Gastarbeiter zugebracht hatte, hat er in einem in der Nähe gelegenen Dorf sein Haus gebaut. Doch wer hier lebt, ist ständig mit dem Tod konfrontiert. Er kommt von den Höhenzügen rund um die Kleinstadt. Dort sind serbische Stellungen zu erkennen. Von da aus schießen Scharfschützen manchmal auf alles, was sich in der Stadt bewegt.

Das hindert die Bewohner jedoch nicht, die Straßen zu bevölkern. „Wir müssen damit leben, wir können nicht dauernd in den Kellern hocken. Natürlich gibt es viele Tote, bisher waren es dreihundert, darunter viele Kinder. Doch was sollen wir tun? Sollen wir den Tschetniks die Stadt einfach übergeben? Niemals.“ Besser sei es, bei aller Gefahr möglichst „normal“ zu leben. „Wir haben unsere Landwirtschaft, und manchmal kommt auch humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge. Hier brauchen wir nicht wirklich zu hungern wie die Stadtbewohner in Tuzla und den anderen Städten, auch wenn alles knapp geworden ist.“

Seit drei Monaten sind sogar die Schulen wieder geöffnet. Und die Kinder ab elf Jahren, die hier zur Schule gehen, werden diese Zeit wohl in ihrem Leben nicht vergessen. Denn die Schule liegt nur 150 Meter von der Frontlinie entfernt. Durch die Ruinen eines rückwärtigen Gebäudes gelangen die Kinder zum Eingang des Schulhofes, ein gefährlicher „Schulweg“. „Auch hier,“ sagt Sead Terić, „können Querschläger die Schüler gefährden.“ Wie durch ein Wunder sei von den rund zweihundert Mädchen und Jungen bislang niemand verletzt worden. Einstmals sei das geräumige Gebäude für sechshundert Schüler gedacht gewesen. „Auch die serbischen Kinder aus den umliegenden Dörfern waren hier. Von den einstmals sechzig Lehrern haben jetzt acht die Arbeit wieder aufgenommen.“

Hier, wie in der gesamten Region um Brčko, waren die Kämpfe unerbittlich. Die serbischen Nationalisten versuchten, durch die mehrheitlich von Kroaten und Muslimen bewohnte Gegend einen „Korridor“ von Belgrad nach Banja Luka und zu den serbisch besetzten Gebieten zu schlagen. „Damals, im April 1992“, erinnert sich Enad Imamović, der aus Brčko geflüchtet ist, „besetzten die Freischärlergruppen eines Nachts die Innenstadt und sprengten eine Brücke.“ Zu jener Zeit hätten sich die Bewohner nicht vorstellen können, was die Serben eigentlich vorhatten. „Erst als viele verhaftet und ermordet waren, begriffen wir, worum es ihnen ging.“

Mit Handfeuerwaffen versuchten Kroaten und Muslime in einem aussichtslosen Kampf, den Vormarsch der gut ausgerüsteten Serben zu verhindern. „Erst im Juli, als Verstärkungen regulärer Armee-Einheiten der „Jugoslawischen Volksarmee“ eintrafen, gelang es ihnen, den Korridor in der Stadt auf drei Kilometer zu erweitern.“

Nicht allein der Krieg hat ihnen zu schaffen gemacht. Fast mehr noch hat sie das Gefühl bedrückt, von der Außenwelt abgeschlossen und allein gelassen worden zu sein. Dieses Gefühl der Isolation durch die beginnenden Spannungen mit Kroatien und den Kroaten der Westherzegowina sei verschärft worden. „Die Regionen Tuzla und Zenica sind seit April letzten Jahres ja nichts anderes als nur eine große Enklave, so wie Sarajevo. Sie hatten uns eingeschnürt.“

Auch die Kroaten, die hier lebten und loyal den bosnischen Behörden gegenüber geblieben waren, „sprachen sogar schon vorher vom Verrat Tudjmans. Als wir nämlich im Oktober 1992 eine Offensive nördlich von Brčko machten, hätten die kroatischen Truppen von gegenüber der Sava nur vorzugehen brauchen, und wir hätten unsererseits einen bosnisch- kroatischen Korridor errichtet“, erklärt der Kommandeur, „aber Tudjman hielt die kroatischen Truppen zurück. Das war zu der Zeit, als sich die Kroaten auch aus Bosanski Brod zurückgezogen haben.“

Im dem Café des Ortes zeigen sich die muslimischen Männer, die hier nachmittags anzutreffen sind, froh über den Friedensschluß mit den Kroaten, manche aber trauen dem neuen Frieden nicht. Bei Tee und selbstgedrehten Zigaretten lamentieren sie über die Chancen, die durch den „Krieg im Kriege“ vergeben worden sind. „Karadžić und Boban wollten uns verhungern lassen, sie haben uns eingeschlossen, allein die Stärke unserer Armee hat uns vor dem Tod bewahrt“, sagt einer und nippt an seiner Tasse. „Wir müssen es auch in Zukunft alleine schaffen. Auf der serbischen Seite sind viele Bewohner nach Belgrad und Serbien gegangen, die haben keine Menschen mehr, nur noch 400.000 leben dort. Wir aber sind fast zwei Millionen, wir werden Bosnien zurückerobern.“

Die Straße führt eng an der Frontlinie entlang. Auf den gegenüberliegenden Hügeln drohen die serbischen Stellungen. Endlich biegt die Straße ab ins sichere Gelände. Die Äcker sind schon gepflügt, und in den Gemüsegärten wird fleißig umgegraben. Pferdekarren bevölkern die Straße. Wie früher sind Ochsen und Pferde die unentbehrlichen Helfer in der Landwirtschaft. Der Mangel an Benzin und Diesel hat die Traktoren unnütz werden lassen. Und die Arbeit mit den Tieren bildet einen Kontrast zu den riesigen Kühltürmen des Kraftwerks von Tuzla, das seit dem Raketenangriff im Oktober 1993 nur mit geringer Kapazität arbeiten kann. Doch immerhin liefert es pro Haushalt vier Stunden Strom am Tag.

Selbst die Rasenflächen der Großstadt Tuzla werden von den Menschen mit Hacken und Rechen zu Gemüsebeeten umfunktioniert. Denn trotz der Konvois, die seit Ende Februar die Stadt wieder erreichen, müssen die meisten Einwohner Hunger leiden. Die Menschen sind schmal und kalkweiß geworden. Es sei jedoch ein stiller Hunger, niemand habe sich beklagt. „Dabei haben nur die Randgruppen, die Alten, die Kinder und die Flüchtlinge internationale Hilfe erhalten, der Großteil der Stadtbevölkerung hat praktisch nichts zu essen“, bestätigt eine Mitarbeiterin der UNO-Hilfsorganisation UNHCR.

Wenn nach der Eröffnung des Flughafens nicht bald Hilfsflüge kämen, „wird es schwer. Die Frühlingsmonate sind ja die schlimmsten für die Bevölkerung. Und wir brauchen jetzt auch Saatgut.“