Nach dem Mord: Ängste und Rätsel

Mexiko: Guerilla distanziert sich vom Kandidatenmord / Militäroffensive in Chiapas befürchtet / PRI hat noch keinen Nachfolger / Wahlen sollen nicht verschoben werden  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Die Zapatistas melden sich zurück: In einer Presseerklärung verurteilte die politische Führung der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) den „feigen Mord“ an dem PRI-Kandidaten Luis Donaldo Colosio. In dem „an das mexikanische Volk“ und die Weltpresse gerichteten Schreiben distanziert sich die Guerilla von „jeder Art von Terrorismus“ und bezeichnet den Anschlag als „Provokation, um den friedlichen Versuch der Demokratisierung des nationalen politischen Lebens zunichte zu machen“.

Gleichzeitig wird das Attentat als „Vorspiel zu einer großangelegten Offensive gegen uns“ und als „Beginn eines schmutzigen Krieges“ gegen alle oppositionellen Kräfte gewertet. Man sei in „Alarmbereitschaft“ – so Pressesprecher Marcos –, da es „klare Anzeichen für die Vorbereitung einer militärischen Lösung“ gebe: Detailliert aufgeführt werden in dem Schreiben diverse Bombardements, Hetzjagden auf vermeintliche EZLN-Sympathisanten und Truppenbewegungen in der Konfliktzone. Vom Verteidigungsministerium werden diese „Behauptungen“ bislang kategorisch dementiert.

Die seit Mitte März laufende Abstimmung der „Friedensvereinbarungen“ in den zapatistischen Gemeinden ist von der Guerilla bis auf weiteres suspendiert worden. Statt dessen bereitet sich die EZLN nach eigener Aussage gegenwärtig auf Angriffe der Streitkräfte vor: Die Männer und Frauen seien in „Kampfbereitschaft“, die Zugänge zum zapatistisch kontrollierten Territorium vermint, und auch der freie Zugang der Presse werde ab sofort aufgehoben; nur noch in Ausnahmefällen dürfen „Kriegsberichterstatter“ die Straßensperren der EZLN passieren. Solange man aber nicht angegriffen werde, werde man den Waffenstillstand respektieren und habe keinesfalls die Absicht, die „friedliche Durchführung der anstehenden Wahlen“ zu torpedieren.

Und aller Voraussicht nach werden diese Wahlen – entgegen anderslautenden Gerüchten über eine mögliche Verschiebung – am dafür vorgesehenen 21. August stattfinden, wie Innenminister Jorge Carpizo am Freitag versicherte. Wer allerdings anstelle von Luis Donaldo Colosio in den Kampagnenring steigen wird, ist zur Stunde noch unklar. Bislang ist die Rede von dem als Hardliner bekannten Finanzminister Pedro Aspe, dem PRI-Vorsitzenden Fernando Ortiz Arana oder dem vollkommen farblosen Koordinator der bisherigen Wahlkampagne Colosios, Ernesto Zedillo.

Die Sache hat nur einen verfassungsrechtlichen Haken: Nach Artikel 82 der mexikanischen Verfassung darf ein Anwärter auf das höchste Amt im Staate mindestens sechs Monate vorher kein öffentliches Amt bekleiden. Damit aber würden alle amtierenden Minister des Kabinetts ausscheiden – es sei denn, die Wahlen finden später statt als geplant.

Einer wird aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich nicht Kandidat: Manuel Camacho Solis, bislang als politisch gefährlichster Gegenspieler des ermordeten Kandidaten gehandelt. Auf Drängen der Reporter gab er beim Verlassen des Begräbnisses von Colosio ein ebenso wortkarges wie bedeutungsvolles Statement ab: Wie schon vor vier Tagen angekündigt, werde er auch jetzt „nicht die Präsidentschaft dieses Landes anstreben“. Umringt wurde Camacho dabei von aufgebrachten Colosio- Anhängern, die ihn lautstark beschimpften.

Zur Entschärfung des angespannten Klimas in Chiapas dürften die spärlichen Aussagen des Colosio-Mörders kaum beitragen: In einem ersten Verhör hatte dieser erklärt, bei der Vorbereitung des Attentats „Kontakt zu diversen bewaffneten Gruppen“ im Lande gehabt zu haben. Nähere Angaben zu diesen „Gruppen“ wollte der 23jährige Industriemechaniker – der unbestätigten Gerüchten zufolge Ex-Polizist sein soll – allerdings nicht machen. Sinn des Anschlags sei es gewesen, den Kandidaten zu „verletzen“, um so die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zu ziehen und seine „pazifistischen Ideen“ zu verbreiten. Zu diesem Zweck habe Mario Aburto Martinez auf einem Schießplatz außerhalb der Stadt monatelang trainiert. Zwei weitere Männer waren zusammen mit Aburto als Verdächtige verhaftet worden – höchstwahrscheinlich irrtümlich, wie sich herausstellte: Der zunächst als Komplize gehandelte Vicente Mauyoral war von der PRI sogar als Wachschutz für die Veranstaltung angeheuert worden.

Obwohl der Tathergang weitgehend geklärt scheint, geben die Hintergründe des Anschlags weiterhin Rätsel auf. Auch wenn Aburto nach Auffassung von Experten „wahrscheinlich“ kein Einzeltäter ist, war über etwaige Auftraggeber oder Komplizen bisher nichts in Erfahrung zu bringen. Abgeschlossen ist der Fall noch lange nicht: Eine parlamentarische Untersuchungskommission, zusammengesetzt aus Mitgliedern aller sechs im Parlament vertretenen Parteien, machte sich am Samstag aus der Hauptstadt zum Tatort in Baja California auf den Weg. Insgesamt 13 Menschen – darunter die sechsjährige Schwester und die neunjährige Cousine des Angeklagten – sind in Tijuana bislang im Zusammenhang mit dem „Jahrhundertmord“ vorübergehend festgenommen worden.