Mit leerem Beutel große Sprünge machen

■ Die „Statt Partei“ pendelt zwischen Basisnähe und Europadrang

Kassel (taz) — Der neue Chef leidet nicht an mangelndem Selbstbewußtsein: „Wir haben Deutschland etwas zu sagen“, verkündet Bernd Schünemann und präzisiert wenig später: „Wir sind die einzigen, die Rot-Grün verhindern können.“

Schünemann, 49jähriger Staatsrechtler an der Universität München und seit Samstag Bundesvorsitzender der Statt Partei, hat Großes vor mit der im Sommer vergangenen Jahres vom Hamburger CDU-Dissidenten Markus Wegner gegründeten Wählervereinigung. Gründung von Landesverbänden in sämtlichen Bundesländern, Teilnahme an den Europawahlen, Einzug in den Bundestag, schließlich die „Re-Demokratisierung des deutschen politischen Systems“. All dies unverzüglich.

Ganz so eilig haben es nicht alle an diesem Wochenende in Kassel, wo sich gut 100 Delegierte zur ersten Bundesversammlung der Statt Partei zusammengefunden haben. Bundestag? Europa? „Wenn man ein Haus baut, fängt man auch beim Keller an und nicht beim Dach“, faßt ein Thüringer Delegierter die Stimmung jener zusammen, denen die großen Worte des neuen Vorsitzenden ein wenig zu vollmundig vorkommen. Erst sechs der 16 anvisierten Landesverbände haben sich bisher gegründet. Und das ziemlich holterdipolter. Die Mitgliederzahlen des Bürgerklubs pendeln irgendwo zwischen zwei- und viertausend.

Es sind vor allem Hamburger Statt-Parteiler, die an diesem Wochenende vor einer „Überschätzung der eigenen Fähigkeiten“ warnen. Sie befürchten, daß die hehren Statt-Prinzipien – Bürgernähe, Bürgerbeteiligung, Fachkompetenz – einem machtorientierten „Schneller-Höher-Weiter“ geopfert werden. Entsprechende Erfahrungen sind an der Elbe vorhanden, wo Partei und Bürgerschaftsfraktion Mühe haben, den Ruf eines mehr oder weniger dilettantischen Mehrheitsbeschaffers für die regierenden Sozialdemokraten abzulegen.

Getrieben von Parteigründer Wegner hatte sich die Statt Partei nach ihrem sensationellen Wahlerfolg bei den Bürgerschaftswahlen nicht nur in die Parlamentsarbeit, sondern auch in die Regierungsbeteiligung gestürzt, hatte eine bundesweite Ausdehnung der Wählervereinigung beschlossen, um schließlich doch zu bemerken, daß man sich vielleicht ein wenig verhoben hatte. Am Dienstag vergangener Woche verweigerte sich die Hamburger Mitgliederversammlung zum ersten Mal den Expansionsgelüsten Wegners und stimmte mit großer Mehrheit gegen eine Beteiligung an den Europawahlen: „Wir sind realistischer geworden in Hamburg“, begründet eine Delegierte die Entscheidung, „es wird Zeit, daß wir uns wieder um Hamburg kümmern.“

Ein Grund, weshalb in Kassel kein Hamburger für den Bundesvorsitz kandidiert. Markus Wegner, der das sicher gern selber gemacht hätte, darf nicht. Die Statt- Partei-Satzung schließt Doppelfunktionen aus. Und Wegner ist Fraktionschef in der Hamburger Bürgerschaft. Ein Amt, das er erst im Herbst gegen einen Sitz im Bundestag zu tauschen gedenkt.

Damit ist in Kassel der Weg frei für Bernd Schünemann, der sich schon im Vorfeld der Bundesversammlung so kräftig nach dem Vorstandsposten gestreckt hatte, daß auf der Tagesordnung nicht etwa eine „Rede des neuen Bundesvorsitzenden“ angekündigt wird, sondern eine von „Prof.Dr. B. Schünemann“.

Da kann auch die überraschende Gegenkandidatur Wolfgang Scharpings nicht mehr als ein erstauntes Murmeln auslösen. Ist das etwa... ? Ja, er ist es. Gerade von den Grünen zur Statt Partei konvertiert, stürzt sich der Bruder des SPD-Vorsitzenden in die Abstimmung – er erhält vier Stimmen.

„Eine gemeinsame Anstrengung, die uns zusammenschweißen wird.“ – „Nicht anzutreten wäre verhängnisvoll, die Alternative katastrophal.“ Bernd Schünemann, der gerne den „gesunden Menschenverstand“ zitiert, legt sich mächtig ins rhetorische Zeug, um die in Kassel versammelten Ärzte, Finanzberater, Architekten und Dozenten im feinen Zwirn von der Notwendigkeit des sofortigen Marsches nach Brüssel zu überzeugen. „Diese Abstimmung entscheidet, ob Statt Partei zusammenwächst oder nicht.“

Die Polemik wirkt. Die zunächst brave Debatte wird am Sonntag mittag hitzig. Der Popanz „Teilnahme an der Europawahl“ legt auch die unterschwelligen Statt-Konflikte bloß. Die frischgegründeten Landesverbände in Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen wollen sich nicht länger dem vermeintlichen Führungsanspruch der Hamburger beugen, die Hamburger fürchten, von den Neuen majorisiert zu werden. „Das wird eine Blamage!“ – „Es wäre naiv, nicht anzutreten.“ – „Wir haben kein Profil!!“ – „Wir müssen antreten!!!“ Und wenn es nur ist, um „Staatsknete abzuzocken, mit der wir dann einen vernünftigen Bundestagswahlkampf machen“, wie Markus Wegner unumwunden zu Protokoll gibt. „Wenn wir das machen“, sagt eine Delegierte ein wenig leiser, „komme ich mir vor, wie ein Känguruh, das mit leerem Beutel große Sprünge macht.“ Na, dann hopp: Mit 62 zu 45 Stimmen sprach sich die Versammlung für eine Teilnahme an der Europawahl aus. Uli Exner

Siehe auch Kommentar Seite 10