: Von Friedhofsschändung bis Mord
■ Antisemitismus ist in Deutschland an der Tagesordnung
Berlin (taz) – Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, hat schon lange damit gerechnet. Michel Friedmann hat es befürchtet, und Julius Schoeps, Professor für neuere deutsche Geschichte in Potsdam, wundert sich nicht. Der Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck überrascht nicht im gegenwärtigen Klima der enthemmten Gewalt. Im deutschen Winter 1993 verging kaum eine Woche, in welcher der latent vorhandene Antisemitismus nicht offen zu Tage getreten wäre.
Nach dem Lübecker Anschlag, zu dem sich mittlerweile mehrere rechte Trittbrettfahrer bekannt haben, ist Franz Schönhubers Hetze gegen Bubis das jüngste Glied in einer Reihe antisemitischer Angriffe. Der „Republikaner“-Chef hatte Ignatz Bubis „einen der schlimmsten Volksverhetzer in Deutschland“ genannt. In Landshut leitete die Staatsanwaltschaft Vorermittlungen gegen Schönhuber ein. Mit einer Entscheidung, ob sich Schönhuber mit dieser Verunglimpfung der Volksverhetzung schuldig gemacht hat, sei nicht mehr vor Ostern zu rechnen. Eine Anzeige Schönhubers gegen Bubis, die der rechte Populist gestellt hatte, ist dagegen gescheitert. Der Vorwurf der Volksverhetzung gegen Bubis sei „abwegig“, sagte Hans Seeliger von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Mainz.
Von Schönhubers Niederlage unbeeindruckt, erstattete vorgestern der Vorsitzende der NPD, Günter Deckert, Anzeige gegen Bubis – wegen Volksverhetzung. Deckert hatte Mitte März in Sachen Auschwitz-Lüge für Furore gesorgt. Der BGH hatte dessen Verurteilung wegen Volksverhetzung aufgehoben, weil nicht eindeutig sei, daß sich Deckert „mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert“.
Zurück zum Anfang des antisemitischen Winters. Beginnen wir am 1. Dezember 1993.
– Holocaust-Leugner Fred A. Leuchter, unter anderem angeklagt wegen Volksverhetzung, wird vom Landgericht Mannheim gegen eine Kaution von 20.000 Mark aus der U-Haft entlassen.
– 15. Dezember 1993: Das Jugendschöffengericht beim Amtsgericht Strausberg fällt das Urteil gegen einen 20jährigen wegen der Schändung des Jüdischen Friedhofs in Müncheberg. Der Neonazi bekommt ein Jahr und zwei Monate auf Bewährung.
– 19. Dezember 1993: Unbekannte werfen auf dem Jüdischen Friedhof Worms Grabsteine um.
– 20. Januar 1994: Der Bundesgerichtshof hebt ein Urteil gegen drei von ursprünglich vier Angeklagten auf, die wegen der Schändung eines jüdischen Friedhofs zu Haftstrafen zwischen vier und fünf Jahren und in einem Fall zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Gegen einige der Angeklagten im Alter von 22 bis 27 Jahren wurde ursprünglich wegen versuchten Mordes ermittelt. Sie hatten nachts Steine in ein Asylbewohnerheim geworfen.
Schon einmal in diesem Jahr war eine Synagoge, die als Gedenkstätte dient, Ziel eines Anschlags. Am 1. März warf eine Gruppe von Libanesen einen Brandsatz auf die Eingangstreppe der Synagoge in Essen. Das Feuer war nach kurzer Zeit von selbst erloschen. Die Libanesen, gegen die noch ermittelt wird, bezeichneten den Anschlag als Racheakt auf das Massaker an Arabern in Hebron. awa
Die Informationen stammen zum Teil aus einer Chronik des Archivs für Sozialpolitik/Frankfurt/M.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen