Wenn die Schlange erwacht

■ Ob Hatha- oder Kundalini-Yoga: Für die Fans der östlichen Lehre ist die Erweckung der heilenden Urenergie Labsal für den gesamten Organismus

Viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Yoga“ hören, an „Schlangenmenschen“, die mit unnatürlich verrenkten Gliedmaßen in akrobatischen Stellungen verharren. Doch diese Körperstellungen, die sogenannten Asanas, machen nur einen kleinen Teil des Yoga-Systems aus. Das Geheimnis der Yoga-Übungen liegt im Wechsel von Anspannung und Entspannung, wobei im Laufe der Übungen jedes Organ und jeder Teil der Wirbelsäule miteinbezogen werden.

Yoga war noch bis zu diesem Jahrhundert eine Geheimlehre, die von einem Guru an ausgewählte Schüler weitergegeben wurde (über Lehrerinnen und Schülerinnen ist nichts bekannt). Durch diese Praxis der mündlichen Überlieferung kann nicht genau bestimmt werden, wie alt der Yoga ist, doch gibt es archäologische Funde aus Indien - Tonfiguren in Yoga-Positionen -, die sich auf die Zeit um 5000 v. u. Z. datieren lassen.

In Europa populär geworden ist besonders der Hatha-Yoga. „Ha“ ist das Sanskritwort für Sonne, „Tha“ bedeutet Mond, Hatha-Yoga meint die Vereinigung polarer Energieströme und deren Harmonisierung und Verstärkung mit Hilfe von Körperübungen. Hatha-Yoga zeichnet sich durch statische und langsame Asanas aus, die im Wechsel mit Atem- und Entspannungsübungen ausgeführt werden.

Die zweite im Westen bekannt gewordene und besonders in Hamburg stark vertretene Richtung ist Kundalini-Yoga. Die Kundalini-Kraft ist eine Form der menschlichen Energie, die als zusammengerollte Schlange am Grunde der Wirbelsäule ruht. Durch bestimmte Übungen kann sie allmählich geweckt werden und im Rückgrat aufsteigen. Die Erweckung dieser heilenden Urenergie ist das Ziel aller Yoga-Arten: durch ihren Aufstieg verbindet sie (“yoga“ heißt im Sanskrit „verbinden“) den Pol der Schöpfungskraft mit dem des Bewußtseins und hebt so die Dualität des Menschen, von der die tantrische Philosophie ausgeht, auf. Für das Kundalini-Yoga bedeutet das, daß hier mit dynamischeren und schnelleren Übungen gearbeitet wird. Der Nachdruck liegt dabei auf dem Spüren und Entfalten der eigenen Energie und dem Atem, der bei jeder Übung bewußt geführt wird.

Doch wie erklärt sich der phänomenale Erfolg von Yoga in der westlichen Welt? An Volkshochschulen, in speziellen Studios und Privatpraxen von HeilpraktikerInnen und TherapeutInnen sind Yoga-Kurse nach wie vor der Renner. Der Trend hält seit etwa 30 Jahren ungebrochen an. Sogar die Krankenkassen, die ansonsten alternativen oder östlichen (Heil-) Methoden skeptisch gegenüberstehen, zahlen Zuschüsse.

Eine wahre Bücherflut zum Thema samt Lehrvideos und -kassetten füllt mittlerweile die Regale nicht nur der esoterischen Buchläden. Für jedes Bedürfnis läßt sich auf dem Markt das Passende finden: Augenyoga, Yoga für Teams, für Schwangere, für Kinder, für behinderte Menschen, für Menschen mit Rückenproblemen, auch Yoga-Urlaube werden angeboten- an der Nordsee, in der Toskana und natürlich in Indien, in Kombination mit Malen, Fasten oder Wandern ...

Wissenschaftliche Untersuchungen zu den physiologischen Auswirkungen bestätigen, was Yogis und Yoginis (Yogi-Frauen) schon lange wissen. Yoga übt einen tiefgreifenden Einfluß auf den gesamten Organismus aus, er regt Kreislauf und Hormonsystem an, massiert die Organe, wirkt über die aus der Akupunktur bekannten Meridiane beruhigend auf das Nervensystem, beeinflußt den Muskeltonus und kräftigt den gesamten Stützapparat des Körpers. Im Zusammenspiel mit bewußter Atmung und Konzentration werden die Lunge und der ganze Körper gründlich durchlüftet und bis zum kleinsten Muskel entspannt. Jeder Sequenz ist Atemanhalten, Ein- oder Ausatmen zugeordnet, Fortgeschrittene lenken ihren Atem gezielt zu einer bestimmten Region des Körpers.

Viele müssen das Atmen völlig neu lernen. Sie haben ein flache Atmung automatisiert und verfügen nur über eine geringe nutzbare Lungenkapazität. Durch die Asanas wird der Brustkorb so gedehnt und die Wirbelsäule so gedreht, daß Luft in Regionen einströmen kann, von denen es unmöglich erschien, daß sie belüftet werden können. Dabei werden oft erstaunliche Erfahrungen gemacht: die Übungen können die Stimmung maßgeblich beeinflussen, das Loslassen nach ungewöhnlicher Anspannung kann frühere Verspannungen überhaupt erst bewußt machen, durch intensive Konzentration auf einen bestimmten Körperteil kann dieser sich spürbar erwärmen. Am Ende dieser Entwicklung steht die völlige Beherrschung des Körpers und der Organe, die normalerweise dem Einfluß unseres Willen entzogen sind. Berühmt ist das Beispiel des indischen Yogis, der seinen Herzschlag verlangsamen und seine Körpertemperatur herabsetzen kann.

Aber alle Yoga-Übenden sind sich einig, daß schon kleinere Schritte wie eine verbesserte Atmung und Haltung sowie eine stärkere Konzentrationsfähigkeit eine spürbare und wohltuende Wirkung zeigen. Die einen freuen sich über mehr Gelassenheit und inneren Frieden, andere berichten von größerer Wachheit und Streßresistenz, auch therapeutische Effekte werden beobachtet: gesteigertes Körper- und Selbstbewußtsein eröffnen Möglichkeiten, Zwänge, eingefahrene Verhaltensmuster und Gewohnheiten zu durchbrechen.

Da kann die Parole also eigentlich nur lauten: Yoga in die Betriebe und als Volkssport!

Sandra Fanroth