Kritker mit eingebauter Vorfahrt

Das Licht geht aus. In lang anhaltender Stille beginnt Christoph Marthalers Sucht/Lust. Plötzlich erhebt sich in der dritten Reihe ein Geraschel und Geknister, das in dieser Situation so laut wie der Start eines Linienjets wirkt: Herr St., Verrißschreiber einer konservativen Frankfurter Tageszeitung, beginnt mit der Arbeit. Da er im Dunklen seinen kleinen Block schnell vollgeschrieben hat, blättert er noch mehrfach krachend um.

Eine rücksichtslose Ausnahme? Keineswegs. Denn langjährige Theaterkritiker fühlen sich am Ort des Geschehens eigentlich alle im Besitz von sittlichen Vorfahrtsregeln, gegen die Überholer mit Lichthupe auf der Autobahn geradezu rücksichtsvolle und schüchterne Artgenossen darstellen. Ob sie wie Herr St. das Theater als ihr persönliches Arbeitszimmer betrachten oder wie Plaudertasche K. bei Klassikerzitaten laut mitmurmeln und meckernd lachen, wenn der Regisseur das Original verändert hat, - in seinem Stall wird der Schöngeist zum Bauern. Und dabei handelt es sich keineswegs um freche Rebellion gegen abgestandene Verhaltensformen, sondern um die pure Selbstgefälligkeit - das macht es so peinlich.

Zum Beispiel Kritikerin S.: Bei jeder Premiere verharrt sie an ihrem Platz in den ersten Reihen, um in aristokratischer Herablassung die fernen Begrüßungen der armen, hinter ihr Plazierten zu empfangen. Oder Chefkritiker S., der sich vor die Tribüne stellt, um sich von seiner Begleitung für alle als „der berühmte...“ vorstellen zu lassen. Auch er stirbt leider keine tausend Tode der Peinlichkeit. Ein anderer Typus, zu dem Kritiker B. gehört, begleitet die ihm mißfallenden Vorstellungen mit detonationsartigem Räuspern und Seufzen. Und Frau L. hat nicht das mindeste Problem, sich zwei Stunden im Flüsterton über das Dargebotene zu ereifern.

Natürlich sind Foyer und Zuschauerraum eigentlich Besuchszimmer und Salon des Kritikers. Und dort lassen wenige die Gelegenheit aus, fürs lauschende Volk Anekdoten aus ihrem prominenten Dasein zu erzählen. Etwa Herr K., der mit seiner fernsehgeschulten Stimme locker einen kleineren Zuschauerraum zum kollektiven Kopfschütteln animiert. Das ist alles nicht schön und provoziert eine multifunktionale Lösung: Man sperrt die komplette Versammlung wie die Kollegen beim Sport in einen Glasgang, wo sie frei lärmen und plappern können. Auf diesem Weg könnte man auch gleich die Theater-Direktübertragung einführen. Und wer immer sich zu Hause vor dem klugen Geschwätz fürchtet, der hat dafür einen Abstellknopf. Wäre das nicht schön? tlb