Frühere Visionen nacherzählt

■ Trotzdem lohnend: Christoph Marthalers neues Stück „Sucht/Lust“ im Schauspielhaus

Es hätte sehr verwundert, wenn die ausgesuchten Mosaiksteinchen, aus denen Christoph Marthaler seine Stücke zusammenfügt, sich für die Serienproduktion geeignet hätten. Am Ende eines Produktionsmarathons - vier Arbeiten in einem halben Jahr - stellt sich dann auch prompt eine Unterversorgung ein. Die präzisen, abseitigen Beobachtungen, die Zeichnung Tragik-erfüllter Biografien mit wenigen Strichen, die Fixierung vertretener Liebenswürdigkeit in der Akzentuierung komischer Ticks, der ganze großartige Kosmos aus Randfiguren, den Marthaler bisher so ergreifend und komisch entworfen hat - in Sucht/Lust existiert er nur noch als Fußnote zur Literatur.

Zwar findet auch hier das ihm ureigenste Vokabular wieder seine Anwendung - die Moade als Ort des Geschehens, Gezeichnete und Gescheiterte, die sich im Wiederholungszwang die Erinnerung an ihre Würde bewahren, der rituell erstarrte Deus ex machina, die Musik als Hüter von Sehnsucht und Ekstase -, aber diesmal wirkt dessen Gebrauch wie eine Nacherzählung früherer Visionen.

In einem wunderschönen Zwitter aus großbürgerlichem Wohnzimmer und Kirchenraum mit teilweise übermalten Renaissance-Fresken (Bühne: Katja Hass) horchen sechs Personen auf ihre seelische Erschöpfung: Zwei Obdachlose (André Jung und Monica Bleibtreu), ein Unscheinbarer (Albi Kleiber), eine Undine (Özlem Soydan) und zwei Melancholiker (Martin Horn und Martin Pawlowsky). Wie aus Morpheus' Armen tauchen sie im tiefroten Licht mit ersten Murmlern hervor, finden zu ihren Sätzen und Erinnerungen, die sie wie die Bretter einer treuen Hütte schützen. Sie bleiben sich fremd ohne Blickkontakt auf einer gemeinsamen Bank, geschieden von Sucht und Lust. Wenn sie zurück in den Ozean der Träume fallen, der eigentlich mehr einer Ohnmacht gleicht, öffnen sich Türen und Fenster und bacchantischer Noise-Jazz von J.A. Deane, Lawrence D. ,Butch' Morris und Martin Schütz peitscht das Meer der Gedanken auf. Mystik und christliche Metaphern, Apokalypse und Paradies, längst als Schemen an der Wand sichtbar, geben sich schließlich als das eigentliche Doppel-Thema des Abends zu erkennen. Die Verwandlung vom Gekreuzigten zu Davids totem Marat in der Badewanne ist das finale, aufdringliche Bild dieser Transformation in Heilssucht und Märtyrerlust.

Daß diese schönen Bilder trotzdem nicht recht faszinieren wollen, liegt sicherlich nicht daran, daß das erwartete Opus über die großen und kleinen Geschichten im Kulturkreis der Droge ausblieb. Was aber schmerzlich ausblieb, das war die Verdichtung der Assoziationen auf das zuniedrigst Menschliche. Die fliehende Heterogenität der Texte - u. a. von Lautréamont und Pessoa, von Sylvia Plath und Kandinsky, von Derrida und Kafka, von Rilke, Mörike, Eluard und Konrad Bayer - wirkt wie eingepflanzt, die marthalersche Alchemie, die Überraschung des Gewöhnlichen im Glanz der Poesie, funktionierte nie. So blieb die Erzählung der Lebensgeschichte stets hinter der vierten Wand, weil das Wort plötzlich viel zu wichtig wurde.

Zweiflesohne verlernt man die Magie nicht restlos in der Routine, und deshalb ist auch Sucht/Lust immer noch ein ausdrücklich lohnenswerter Theaterabend. Deutlich klar aber wird, daß der neue Regie-Star eine Häutung braucht, um in der eigenen Wiederholung nicht den Witz zu verlieren. Vielleicht - Stichwort: Magie - sollte er bei nächsten Titeln von den geliebten Buchstabenkombinationen mit u, s und t Abschied nehmen. Manchmal hilft so etwas. Till Briegleb