Das Geheimnis von Lalibela

Unbekannte Pilgerstätte: Ein abgeschiedenes und bislang unzugängliches Dorf in den Bergen im Norden Äthiopiens überrascht den Reisenden mit seinen elf Felsenkirchen und seiner traditionellen, frühchristlichen Mystik  ■ Von Sinikka Kahl

Die untergehende Sonne taucht die dürren Höhen in bronzenes Licht. Auf einem Esel reitet ein Mann in langer weißer Robe und Sandalen vorbei. Mit einer tiefen Verbeugung grüßt er die Vorübergehenden. Ein kleiner Schafhirte trägt ein Lamm auf seinen Schultern. In einer Hütte verteilt die Mutter frisches Heu auf dem nackten Boden, und ein Kind wäscht die Füße des Familiengastes.

Das Dorf Lalibela liegt hoch oben in den Bergen im Norden Äthiopiens. Es ist eine bitterarme Siedlung von etwa 5.000 Einwohnern. Aber für die orthodoxe Kirche Äthiopiens ist es ein heiliger Ort. Wenn ein Reisender um Weihnachten oder Ostern eintrifft, begegnet er Pilgern, die wochenlange Fußmärsche hinter sich haben. Sie kommen im Dorf an, verneigen sich und küssen die Erde.

König Lalibela regierte Äthiopien zwischen 1185 und 1211. Er wollte den Ort in ein neues Jerusalem verwandeln, damit die Gläubigen nicht mehr so weit pilgern müßten. Jahrhundertelang war der Ort von der Außenwelt abgeschnitten; zuletzt waren Reisen dorthin wegen des Bürgerkrieges unmöglich. Erst jetzt können Fremde diesen Ort neu entdecken und eines der großen Weltwunder sehen: die elf Felsenkirchen, die König Lalibela bauen ließ.

Die Kirchen sind direkt in den Felsen gehauen. Jedes Glasfenster, jede Heiligenskulptur, jede der riesigen Säulenreihen, jede der perfekten Bögen – alles ist aus demselben Stein. Manche der Kirchen liegen in Höhlen. Vier stehen frei: Ihr Fundament ist der Felsen, aber um sie herum sind tiefe Höfe in den Stein gegraben worden. Die Abba- Libanos-Kirche ist nicht nur durch den Fußboden, sondern auch durch das Dach mit dem umliegenden Felsen verbunden.

Alle Gotteshäuser wurden auf diese Weise unterirdisch gebaut, um sie vor muslimischen Invasoren zu schützen. Die größte Kirche, Beta Medhane Alem, liegt in einem Graben; sie ist 11 Meter hoch, 33,5 Meter lang und 23,5 Meter breit. An allen vier Außenmauern gibt es eine Säulenkolonnade, die innen wiederholt wird. Die Beta- Giorghis-Kirche hat sogar die Form eines Kreuzes. Alle Kirchen sind durch ein kompliziertes, verwirrendes Labyrinth unterirdischer Gänge und Passagen verbunden, von dem Krypten, Grotten und Höhlengalerien abgehen.

Wie konnte dieses gigantische Ensemble vor achthundert Jahren aus dem harten Fels gehauen werden? Nach der Legende dauerte der Bau der Kirchen 23 Jahre; bis zu 64.000 Menschen sollen allein an der Bearbeitung des Steins beteiligt gewesen sein. Nach Expertenmeinung soll der Bau hundert Jahre gedauert haben. In Lalibela weiß jeder, wie die Kirchen entstanden sind. Prinz Lalibela sollte von seinem Bruder vergiftet werden. Lalibela war drei Tage bewußtlos und wurde dann von Engeln in den Himmel gebracht. Gott sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, denn er würde doch noch König sein und Kirchen bauen. Er gab dem künftigen Herrscher genaue Anweisungen, bis hin zur Farbgebung. Der verwirklichte dieses Werk, und Engel halfen ihm dabei. „In Lalibela hört Gott die Gebete“, sagt der Mönch Abba Gebreselassie. „In Lalibela ist der Mensch Gott sehr, sehr nahe.“

In den unheimlichen Steinfluchten herrscht tiefes Schweigen. Nur Tauben sind zu hören, mit einem gespenstischen Gurren. Das Licht geht bruchlos in Nacht über. Es gibt Löcher in den Wänden, wo einst Könige und Priester begraben waren. Heute leben Menschen darin – bärtige Einsiedler. Vor den Kirchen betteln Blinde und Leprakranke. „Christus! Christus!“ flüstern sie dem Reisenden entgegen.

Zwischen den dämmrigen Schatten der Kirchensäulen bewegen sich Priester. Aus jahrhundertealten Gebetbüchern mit Seiten aus Ziegenhäuten lesen sie Gebete in der alten äthiopischen Kirchensprache Ge'ez. Sie wachen über viele Geheimnisse. In der Beta- Maryam-Kirche gibt es eine verhangene Säule, auf der die Zukunft der Welt geschrieben steht – aber niemand darf sie lesen. Mehrere Kirchen haben unterirdische Gewölbe, zu denen die Eingänge verschüttet worden sind. König Lalibela selbst ist in der Betoa- Golgotha-Kirche begraben. Der Sand auf seiner Grabstätte soll Krankheiten heilen.

Aber das größte Mysterium der Priester ist das Herz der koptischen Kirche Äthiopiens: die Tabots. Jede äthiopische Kirche ist dreigeteilt, wie hebräische Tempel. Der erste Abschnitt, k'ene mahlet, ist frei zugänglich. Der zweite, keddest, dient der Entgegennahme der Heiligen Kommunion. Den heiligen dritten Teil, mak'das, dürfen nur Priester betreten. Hier werden die Tabots aufbewahrt: Kopien, zumeist aus Holz, der steinernen Gesetzestafeln, die Moses einst von Gott entgegennahm und auf denen die Zehn Gebote eingraviert sind.

„Wenn ein Gläubiger sich mit reinem Herzen den Tabots nähert, wird deren heilige Kraft ihm Gesundheit und Gnade schenken“, sagt Haile Yesus Ejigu, der Bischof von Lalibela. „Aber sehen dürfen die Tabots nur Priester. Nur sie wissen, wie man sich mit Gebeten vor ihrer Energie schützt. Andere können krank werden.“

Nur in Äthiopien gibt es diesen Kult der Tabots. Warum? Dafür haben die Äthiopier eine einfache Antwort – gleichzeitig die Antwort auf eine dreitausend Jahre alte Frage: Was geschah mit den ursprünglichen steinernen Gesetzestafeln, die irgendwann zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert v.Chr. aus König Salomons Tempel in Jerusalem verschwanden? „Sie sind natürlich hier, sagt jeder gläubige äthiopische Christ. „Sie sind in der Stadi Axum, in der Kapelle der Heiligen Maria von Zion.“

Nach der Legende reiste die Königin von Saba – eine Äthiopierin – nach Israel, um den großen König Salomon zu besuchen. Nach dem Besuch gebar sie einen Sohn namens Menelik, von dem alle äthiopischen Kaiser bis hin zum 1974 gestürzten Haile Selassie abstammen. Als er groß wurde, besuchte auch Menelik Salomon. Seine Freunde schmuggelten die Bundeslade aus dem Tempel in Jerusalem nach Äthiopien. Die Bundeslade, wertvollste jüdisch-christliche Reliquie, ist eine Kiste aus Akazienholz, verziert mit Gold und zwei goldenen Cherubs, und enthält die Gesetzestafeln Moses'.

Viele Abenteurer haben die verschwundene Kiste bereits gesucht. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden in Jerusalem Ausgrabungen vorgenommen. Zuletzt suchte der britische Journalist Graham Hancock, dessen Buch „The Sign and the Seal“ ein internationaler Bestseller wurde. Hancock untersuchte Spuren in Israel, Ägypten und Äthiopien und glaubt, daß die wertvolle Bundeslade nicht in Jerusalem ist, sondern im 7. Jahrhundert v.Chr. nach Ägypten transportiert wurde. Im 5. Jahrhundert v.Chr. soll sie nach Äthiopien gebracht worden sein und endete in Axum. Dort soll sie seitdem in der Kapelle der Heiligen Maria von Zion stehen, von einem Mönch bewacht.

Die Bibel und andere alte Schriften erzählen von Wundern, die die Bundeslade vollbrachte. Sie hat Menschen getötet, Flüsse umgekehrt, Armeen vernichtet und Städte zerstört. Sie half Äthiopien, die italienischen Kolonialarmeen 1896 zu schlagen – sagen Äthiopier.

Schon seit Jahrtausenden gibt es Kontakte zwischen Israel und Äthiopien, was einen Transport der Lade nach Axum nicht unwahrscheinlich macht und auch die Existenz der Minderheit schwarzer Juden in Äthiopien, der Falaschen, begründen könnte.

Das Christentum erreichte Äthiopien offiziell im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als sich König Ezana bekehren ließ. Im 7. Jahrhundert breitete sich nördlich von Äthiopien der Islam aus und isolierte die äthiopischen Christen für tausend Jahre. Seit dieser Zeit veränderte sich in der Hochlandgesellschaft Äthiopiens fast nichts. Auch das Christentum behielt bis heute seine ausgeprägten jüdischen Merkmale: Jungen werden am achten Tag nach der Geburt beschnitten, Schweinefleisch wird nicht gegessen, und der Samstag wird zusätzlich zum Sonntag als Feiertag begangen. Das religiöse Leben erreicht seinen Höhepunkt zum Timkat-Fest, dem äthiopischen Dreikönigstag, bei dem die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zelebriert wird.

Am Vorabend des Timkat, am 18. Januar, steigt dumpfes Trommeln von den Tiefen der Wandelgänge in Lalibela empor. Begleitet vom Glockenklang der traditionellen sistrum und von Hörnern, bringt sich hier eine unterirdische Prozession zu Gehör. Priester und Diakone tragen dunklen Samt, leuchtenden Brokat und Perlen. Weihrauch verbreitet überall seinen betörenden Duft. In den vergoldeten Verzierungen und im Gold und Silber der Kreuze spiegelt sich die Sonne. Auf ihren Köpfen tragen die Priester die Seele ihrer Kirche – die in wertvolle Tücher gewickelten Tabots.

Die Prozession erfüllt die gesamte bergige Landschaft. Alle sind dabei, Babys und Greise. Junge Männer tanzen, Frauen stoßen spitze Schreie aus. Die Tabots aller Kirchen von Lalibela werden in ein Zelt auf einem Platz getragen. Die ganze Nacht harren Gläubige vor dem Zelt aus, um die aus den Tabots entströmende heilige Kraft in sich aufzunehmen.

Zum Sonnenaufgang wird Wasser von einem Bischof geweiht. Die Gläubigen erneuern ihre Taufe und entledigen sich damit ihrer Sünden: Priester spritzen das Weihwasser auf die Menge, es entsteht Tumult, die Menschen drängen und nehmen das Wasser in Flaschen auf, um es sich gegenseitig über die Köpfe zu gießen.

Dann macht sich die Prozession auf den Weg zurück in die Kirchen. Die Priester vollführen einen langsamen, würdigen Tanz. Und die Tabots, das große Geheimnis, wandern zurück in das Dunkel der Höhlenkirchen, wo sie für das nächste Jahr kein Mensch zu Gesicht bekommen wird.