Mit mir sieht es nicht ganz so schäbig aus

■ Jens Reich, Kandidat für das Bundespräsidentenamt, über die Parteien und das Volk, die Fristenlösung als Politikersatz und den Mut zum Risiko, seinen Pazifismus und die Nato - und...

taz: Herr Reich, Sie haben Ihre Kandidatur auch als Reaktion auf die Parteien- und Politikverdrossenheit bezeichnet. Nach der Niedersachsenwahl lautet die Diagnose der gesellschaftlichen Stimmungslage: Politikverdrossenheit im Abflauen. Halten Sie die Diagnose für falsch?

Jens Reich: Ich habe die Prognosen über eine niedrige Wahlbeteiligung im sogenannten Superwahljahr schon immer für eine verfrühte Sache gehalten. Die Leute wollen mit beeinflussen, und wenn es am Ende nur das Interesse am Einlauf ist, also die sportliche Seite, wie beim Pferderennen. Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, das schon als neuerwachte Politikbegeisterung zu interpretieren. Wenn sich die Wahlbeteiligung wieder normalisiert, ist das erfreulich, aber daraus läßt sich nicht schließen, daß der Unmut zwischen Bevölkerung und Politik schon beseitigt wäre.

Das Ergebnis ist vor allem von den beiden Volksparteien nach dem Motto interpretiert worden: Die Akzeptanz des Altbewährten steigt, die Situation stabilisiert sich.

Vielleicht haben die Intensität der Politikverdrossenheit und die Unruhe in der Bevölkerung etwas nachgelassen, vielleicht sind die rechtsradikalen Anschläge etwas zurückgegangen. Das ist jedoch für die Parteien kaum ein Anlaß zur Vollentwarnung.

Die Chance Ihrer Kandidatur lag doch gerade in der starken Verunsicherung über die Zukunftsfähigkeit der etablierten Politik. Verändern sich auch die Reaktionen auf Ihre Kandidatur?

Die aus der politischen Klasse, oder aus der Bevölkerung?

Wie unterscheiden sich die Reaktionen?

Sie unterscheiden sich deutlich. Für die Bevölkerung scheint meine Kandidatur doch ausgesprochen provozierend, sie erzeugt volle Säle, Zustimmung und Widerspruch. Das ist in den neuen Ländern nicht anders als in München. Ich hätte vor zwei Jahren nicht erwartet, daß man für Themen wie Verfassung und Plebiszit ein breites Interesse gewinnen kann.

Das würde ja die These vom Ende der Politikverdrossenheit eher bestätigen oder zumindest eine klare Differenzierung zwischen Parteien- und Politikverdrossenheit nahelegen.

Ich glaube, daß sich für solche Debatten die Situation eher verbessert hat. Es gibt die Bereitschaft, Freizeit zu opfern für den öffentlichen Diskurs. Da ist politische Bewegung. Das bedeutet nicht schon das Ende von Parteienverdrossenheit, aber hier wird doch ein Ausweg aus der Politikverdrossenheit erkennbar. Die Leute wollen mitreden und mitentscheiden. Das Volk im Westen hat vierzig Jahre lang bewiesen, daß es in der demokratisch verfaßten Gesellschaft leben kann, und es hat im Osten 1989 gezeigt, daß es eine Diktatur beenden und Demokratie auf vernünftige Weise herstellen kann. Das Volk ist reif, Initiativen einbringen zu dürfen, öfter gefragt und am politischen Prozeß direkter beteiligt zu werden.

Wie reagiert denn die politische Klasse auf ihre Kandidatur?

Da bekomme ich weder Kritik noch Zustimmung. Es gibt kein Schweigekartell mehr wie zu Anfang. Das geht sehr höflich und gesetzt zu. Alle haben ihren Kandidaten beziehungsweise ihre Kandidatin und sind doch auch ganz zufrieden, daß da noch einer aus dem Osten ist, damit es nicht ganz so schäbig aussieht. Meine Kandidatur hat zumindest gezeigt, daß man einen ins Gespräch bringen kann, der nicht aus zwanzigjährigem Bonner Erfahrungsschatz schöpft, und sie hat sicher zur Politisierung der Kandidatur für das höchste Staatsamt beigetragen. Erstmals hat es eine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung um die Kandidaten gegeben. Die Parteien haben sich das nicht aus der Hand nehmen lassen, aber es ist doch zu einem gesellschaftspolitischen Ereignis geworden.

Trotzdem werden einige Leute doch fragen: Warum kandidiert Jens Reich weiter, obwohl sich bereits abzeichnet, daß seine Aussicht, zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, nicht mehr sonderlich hoch ist?

Wegen der Kandidatur und der damit einhergehenden Möglichkeit, noch stärker als bisher langfristig kontroverse Themen anzustoßen. Es gibt ja die weitverbreitete Haltung, im Wahljahr gerade nicht über die Zukunft und die langsam heranreifenden Krisen zu reden. Das betrifft die Ökologie genauso wie die Zukunft des Sozialstaates oder den Generationenvertrag nach jetzigem Muster. Die Parteien versuchen den Wahlkampf ohne Risiko zu führen. „Low profile“ heißt die Devise. Dabei müßten gerade die riskanten Themen und die kontroversen Vorschläge in den Wahlkampf geworfen werden. Statt dessen erleben wir kleinkarierte Personaldiskussionen, wird in der Vergangenheit herumgerührt, und die Frage, ob Egon Bahr, Herr Jenninger oder Herr Strauß seinerzeit mit Herrn Axen gekungelt haben, wird wichtiger genommen als etwa die Frage nach der Zukunft unseres Steuersystems.

Denken Sie, daß das politische System der Bundesrepublik mit seinen vierjährigen Legislaturperioden und den Modalitäten, die das mit sich bringt, überhaupt in der Lage ist, solche grundlegenden Krisen zu bewältigen?

Ich glaube, dieser Vierjahresrhythmus ist mittlerweile zu einer Obsession geworden, die grundsätzliche Lösungsversuche verhindert. Statt dessen dominiert das Krisenmanagement. Wir leben in Vierjahrestakten, und in dieser kurzen Zeitspanne traut sich niemand zu, ein Jahrhundertwerk in Angriff zu nehmen. Das hängt mit der merkwürdigen Einstellung zusammen, unter keinen Umständen eine Wahlniederlage zu riskieren. Die richtige Einstellung müßte sein: Wir haben jetzt vier Jahre, und in dieser Zeit machen wir, was wir für unabdingbar wichtig halten.

Aber gerade die Probleme, die Sie angesprochen haben, lassen sich kaum so angehen, daß nach einer Legislaturperiode schon einschneidende Erfolge vorzeigbar sind. Das Ozonloch bekämpft man nicht in einer Legislaturperiode.

Aber energische Maßnahmen sind denkbar. Jede Politik, die in diesen Bereichen etwas unternimmt, ist nach vier Jahren nicht fertig, und sie kann das auch von vornherein eingestehen.

Aber weil auch die erst langfristig wirksamen Eingriffe sofort spürbare Zumutungen mit sich bringen – vom Tempolimit bis zur Erhöhung der Mineralölsteuer –, scheuen die Parteien davor zurück.

Die Feigheit, überhaupt nichts zu sagen und die großen Krisenthemen nur mit allgemeinen Phrasen zu behandeln, erzeugt den Vertrauensverlust, der die Handlungsspielräume für Politik immer mehr verengt.

Haben Sie den Eindruck, daß die Gesellschaft bereit ist, Verzicht im Interesse der Einheit zu leisten?

Ich spüre, daß sich schnell Widerstand meldet, wenn der Verzicht konkret gefordert wird. Andererseits macht man Helmut Kohl den Vorwurf, daß er 1990 keine Blut-Schweiß-und-Tränen- Reden gehalten hat, um die Bürger auf die Zumutungen vorzubereiten. Wieso wären denn alle damals bereit gewesen, zu opfern, und wieso gibt es heute massiven Widerstand, wenn jemand die Bereitschaft beim Wort nimmt?

Wie sind materielle Einschnitte politisch durchsetzbar? Ist das eine Frage der politischen Überzeugung, oder geht das am Ende nur per Dekret?

Wer Bundeskanzler werden will, muß sagen, welche unausweichlichen Belastungen auf die Gesellschaft zukommen, und er muß zugleich versprechen, daß diese Belastungen gleichmäßig auf die ganze Bevölkerung verteilt werden. Auch bei der Finanzierungsfrage müßten die großen Parteien mit kontroversen Vorschlägen in den Wahlkampf gehen. Dann riskieren beide, die Wahl zu verlieren, aber zugleich wächst die Chance, am Ende ein Konzept zu haben, mit dem man regieren kann.

Heißt das, wirklich gute Politik ist immer eine, mit der man sich unbeliebt macht? Und umgekehrt, Politik, die sich in erster Linie an unmittelbarer Zustimmung orientiert, wird langfristig nicht überzeugen?

Gute Politik wäre eine, die Spannung erzeugt, wirklich klare Alternativen entwirft, die das Risiko eingeht, bei der Wahl die Mehrheit zu verfehlen, die aber im Falle des Erfolgs über den nötigen Handlungsspielraum verfügt, weil sie bereits im Wahlkampf ihre Lösungsvorschläge klar präsentiert hat. Mit „low profile“ ist das nicht zu machen. Nehmen Sie die Brandtsche Ostpolitik. Das war ein klar formuliertes, zugleich hoch kontroverses Projekt, das zur Wahl stand und mit großer Mehrheit bestätigt wurde. Das ist ein Beispiel, wie man mit einem kontroversen Konzept in eine Wahl gehen muß.

Gilt das für Ost und West gleichermaßen? Gibt es eine Annäherung zwischen den beiden Gesellschaften oder doch, ähnlich wie 1990, weitgehend unterschiedliche Öffentlichkeiten?

Ich weiß nicht, wie weit sich das Bewußtsein im Osten gewandelt hat. Sind die Menschen, in der relativ schwierigen materiellen Lage, trotzdem in der Lage, in eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft und der Industrie durchzustarten? Die Tatsache, daß wir aus einem weit niedrigeren Konsumniveau kommen, könnte ein prinzipielles Umschalten erleichtern.

Sehen Sie Anzeichen für materielle Verzichtsbereitschaft?

Ja. Es gibt Anzeichen. Auch im Osten sind Begrüßungsgeld und Banane nicht mehr das zentrale Ziel. Der Wunsch von 1989, schnell an den vollen Konsum heranzukommen und zugleich eine Art Abwicklung der ganzen kulturellen Vergangenheit zu versuchen, ist erst einmal gescheitert. Das Bewußtsein, daß die Nachholjagd der 50er und 60er Jahre nicht mehr das oberste Ziel sein kann, wächst.

Das Scheitern der hohen Konsumerwartung führt aber nicht zwangsläufig zu Verzichts- und Reformbereitschaft. Es gibt wachsende DDR-Nostalgie und PDS- Konjunktur.

Das Entscheidende für PDS-Erfolge, scheint mir darin zu liegen, daß es ihr als einziger Partei in den neuen Ländern gelungen ist, Milieu zu schaffen. Sie bedient die Clubeinrichtungen, Hausgemeinschaften, Leute, die früher in der SED waren und sich nun gegenseitig den Rücken stärken; sie macht Mieten- und Rentnerberatung. Diese Art milieustützender Aktivität schaffen die anderen nicht.

Ist das der Grund für den Kutzmutz-Effekt?

Man muß sich darüber im klaren sein, es gibt 20, 30 Prozent, die als Vertreter des alten Regimes vorbelastet sind und sich auch so fühlen. Das sind oft Menschen, die von früher Kindheit an über die FDJ mit dabei waren, die das als selbstverständlich erlebt haben, für die 1989 einen harten Schock bedeutet hat und die nun psychische Stütze suchen. Das bedient der Kutzmutz sehr geschickt. Bisky ist auch so einer. Da ist keine ultralinke Radikalinski-Theorie. Das ist Milieu. Deshalb sind Vorschläge, die PDS zu verbieten, absurd. Das kann man nur fordern, wenn man ganz weit weg ist.

Sehen Sie die Notwendigkeit, die Vergangenheitsdebatte neu zu orientieren?

Die Aufarbeitung der SED- Vergangenheit hätte aus dem Elan der Umwälzung von 89 kommen und eine innere Angelegenheit der DDR sein müssen. Der historische Prozeß ist anders verlaufen. Die Aufarbeitung, vor allem die juristische, wurde aufgeschoben und die Einheit hergestellt, bevor der Abschluß der DDR gemacht worden ist. Hier liegt das Dilemma, das zu der wirklich absurden Konstruktion geführt hat, daß heute politische Vergehen aus der SED-Zeit im formalen Rahmen des bundesdeutschen Strafprozesses, aber materiell nach DDR-Recht verhandelt werden.

Herr Reich, Sie verfügen über langjährige Kontakte in die osteuropäischen Staaten und haben sich seit dem Umbruch 1989 immer wieder für eine politische, ökonomische und kulturelle Öffnung Deutschlands und Westeuropas nach Osten ausgesprochen. Wie beurteilen Sie die Debatte um die Nato-Erweiterung und die Spaltung zwischen den einstigen sowjetischen Satellitenstaaten und Rußland?

Ich bin sehr pazifistisch geprägt. Ich wurde am 8. April 1945 zusammen mit meiner Mutter von den Bordkanonen eines Tieffliegers beschossen, habe die Bombenangriffe miterlebt, und mein Vater ist in Gefangenschaft gewesen. Ich gehöre zu der Generation, die „nie wieder“ gesagt hat und würde deshalb das Militärische gern ganz nach hinten stellen. Ich meine, daß die osteuropäischen Länder in ein Sicherheitssystem integriert werden müssen, ohne daß dabei bestimmte Länder ausgeschlossen bleiben. Das ist im Falle Rußlands sicher sehr schwierig, aber ich halte das für eine Aufgabe, der wir uns genauso zu stellen haben wie einer Erweiterung der EU nach Osten, selbst wenn sich dadurch die Hochintegration im Westen verzögert.

Ihre Freunde aus der ehemaligen Bürgerbewegung in Prag oder Warschau setzen auf eine Nato-Integration unter Ausschluß Rußlands.

Ich denke, wir müssen die ganz begeisterten Nato-Anhänger unter den Bürgerbewegten etwas bremsen. Ich würde es für einen großen historischen Fehler halten, die ehemalige Sowjetunion auszugrenzen und als Unruheherd jenseits des Limes anzusiedeln. Das würde eine harte Polarisierung bedeuten. Die Frage lautet: Wie muß das existierende Bündnis umgebaut werden, um all diesen Ländern ein Angebot machen zu können, mit dem es unmöglich wird, Krieg zu führen?

Als Gegenargument wird immer wieder angeführt, daß die Integration sehr schnell gehen müsse, um dem virulenten Nationalismus, vor allem in Rußland, etwas entgegenzusetzen.

Meine Furcht vor dem östlichen Nationalismus ist nicht so groß. Ich sehe das als geistigen Strohhalm in der Schocksituation des Umbruchs. Jugoslawien ist ein Extrembeispiel, das von außen falsch beeinflußt und von innen mit äußerster Unvernunft in die Eskalation getrieben wurde. Ich glaube, daß die Furcht vor einer neuen russischen Hegemonie nicht realistisch ist, wenn wir wirklich Ernst machen mit einer neuen Sicherheitsstrategie und einer wirtschaftlichen Integration.

Mit Jens Reich sprachen Jürgen Gottschlich und Matthias Geis