Viele Täßchen Von Werner Raith

Die Menge im Täßchen verhält sich zum verursachenden Effekt „ungefähr so wie die paar Tröpfchen ejakulierten Spermas zum Gefühl des Orgasmus“, so ein Spruch des Dichters Alberto Moravia. Kannenportionen gewohnte Nordlichter fühlen sich beim erstmaligen Anblick eines Espressos regelrecht auf den Arm genommen. „Was, das soll Kaffee sein?“ murren sie angesichts der geringen Menge.

Nein, es ist kein Kaffee, sondern ein Caffé, dieser Fingerhut schwarzen, mit braunem Schaum gekrönten Saftes, der den Südländern als das Lebenselixier schlechthin, vor allem aber als Allerweltmittel gegen Allerweltsnotstände gilt. Die Pause zu seinerFoto: Isabel Lott

Einnahme am Vormittag und am Nachmittag (meist mit Pilgergang zur nächsten Bar) ist so geheiligt, daß es Revolutionen gab, wenn Regierungen sie abzuschaffen versuchten. Tausenderlei Namen und Formen bietet er, der Caffé, gesprochen mit einem fast pfeifenden Doppel-„f“ und einem fast ans „ä“ reichenden offenen „e“ am Ende – vom „Caffé espresso“ (der schlechthin serviert wird, wenn man „Caffé“ verlangt) über den „Caffé lungo“ (etwas dünner und doppelt soviel), den „Caffé macchiato“ (mit ein paar Tropfen Milch darin) und den „Caffé latte“ (mit der doppelten Menge Milch) bis hin zum „Capuccino“ – Caffé mit aufgeschäumter Milch und Kakaostaub über dem festgeschlagenen Schaum.

Ein Wirtschaftsfaktor ohnegleichen – nicht nur der verwendeten Kaffemenge (die, pro Täßchen Espresso, durchaus jener für eine ganze Kanne deutschen Kaffees entsprechen kann) und der Zahl der jährlich über den Bartresen oder den Frühstücks- und Mittagstisch gehenden Tassen (zwischen drei und fünf Milliarden pro anno) und somit des Umsatzes (alles in allem mehr als eineinhalb Milliarden Mark pro Jahr), sondern auch seiner Accessoires wegen — und damit sind nicht nur die unzähligen Espresso-Services gemeint, die Porzellan- und Kunststoffirmen anbieten: Zu den geheiligten Glaubenssätzen eines jeden Italieners gehört nämlich auch die Zubereitung seines „Caffé“.

Die Maschine in der Espressobar muß das Wasser mindestens mit einem Druck von 5, beser noch 15 Atü durch das Kaffemehl pressen, und dieses Mehl sollte nicht länger als drei Minuten vor Gebrauch gemahlen worden sein, mit natürlich ebenfalls einer speziellen Mühle, die die Bohnen nicht schleift, sondern zerreißt.

Für den Hausgebrauch gibt es eine unüberschaubare Menge von Spezialgeräten. Etwa die berühmte „Moca“, eine Kanne mit untergesetztem Wassertopf, bei dem der Dampf durch eine Röhre und ein anschließendes Sieb ins Kaffedepot hoch steigt und durch dieses in den darüberliegenden Behälter fließt; andere Erfinder lassen den Kaffe über ein gebogenes Röhrchen direkt in darunterstehende Täßchen laufen. Am originellsten ist die „Napoletana“, die aus zwei ineinandergesteckten Gefäßen besteht – der Wassertopf kommt auf die Feuerstelle, der Serviertopf umgekehrt darauf, dazwischen liegt der Siebbehälter mit dem Kaffe; kocht das Wasser, wird die Apparatur umgedreht, das Wasser läuft nun nach unten – ein System, auf das Kenner besonders schwören, weil der Caffé da besonders schwarz herauskommt.

Phantasievoll auch die Namen, die derlei Geräte führen – Musa luxa, Kontessa und Lambada. Doch unbeschadet der Bezeichnungen, der Herkunft, des Geschmacks und der Zufriedenheit der Kunden – „il caffé“ ist auch der politische und gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Friedens- und Unruhestifter par excellence. Intrigen werden an der Bartheke beim Caffé ebenso ausgeheckt wie Friedensgespräche geführt, verfeindete Parteien stehen nach dem Prozeß einhellig vor dem Täßchen, Geschäfte werden damit besiegelt – und, vor allem, die Annahme eines Caffés ist die einzige Gabe, die unter keinen Umständen als Korruption ausgelegt werden darf.

Bis dahin war allerdings ein weiter Weg, auch für das cafféverliebte Italien: Eine römische Amtsrichterin hatte in den frühen 80er Jahren versucht, einen allseits beliebten Bürgermeister über eine Anzahl unentgeltlich verteilter Espressi als Veruntreuer öffentlicher Mittel einzubuchten. Nichts zu machen – das Verfassungsgricht hob die Entscheidung am Ende auf. Schließlich trinkt man dort auch Caffé – und am liebsten den, der von anderen bezahlt wird.