Kunst, die unter die Haut geht

■ Bei der ersten norddeutschen Tattoo-Convention trafen sich über Ostern die Fans tätowierter Haut in der Markthalle / Body-Piercing ist salonfähig geworden Von Marco Carini

„Zwei Stunden“ habe er vor dem Eingang der Markthalle in einer nicht endenwollenden Menschenschlange gestanden, erzählt Peter* aus Wolfsburg, bevor er die völlig überfüllte Markthalle betreten konnte. In Dreierreihen warten die Ankommenden geduldig darauf, ihre 25 Mark teure Tageskarte zu lösen. „Wir haben mit diesem Andrang nicht gerechnet“, räumt Carola Schneider ein, die die erste „Norddeutsche Tattoo-Convention“ mitorganisiert hat.

Wieviele Tausend BesucherInnen am Ostersonntag und Ostermontag auf das erste Hamburger Treffen der Tattoo- und Piercing-Freunde geströmt sind, darüber hat die 24jährige den Überblick verloren. 35 Tätowierer- und PiercerInnen aus der ganzen Republik, aus Belgien, Italien, Ungarn, aus England, Frankreich und den USA zeigen ihre hautnahe Kunst und legen Hand an. „Eine Veranstaltung“, so haben die Initiatoren ihre Oster-„Convention“ angekündigt, „die alle Eier vor Neid erblassen läßt.“ Und eines ist schon heute klar: Im kommenden Jahr wird die Tattoo-Messe am Osterwochenende wiederholt werden.

In der Markthalle vermischen sich Biker und Indies mit schwarzgewandeten Grufties und den Anhängern der bundesweiten Sado-Maso-Szene. Anarchosterne bevölkern die Szenerie ebenso wie schrillbunte Punk-Frisuren. Ringe zieren Nasenlöcher, Zungen, Unterlippen, Augenbrauen, Bauchnäbel und viele Körperteile, die auf der Veranstaltung verhüllt bleiben.

Keine Frage: Tattoo und Body-Piercing sind salonfähig geworden, die Kunst am Körper boomt. Zeigen und schauen heißt die Devise. Männer aller Altersklassen stolzieren pfauengleich mit bloßem, bunt-verziertem Oberkörper durch die Gefilde der Markthalle, Frauen zeigen nur mit Top bekleidet oder transparenter Netzkleidung verhüllt, was ihr präperierter Body an Form und Farbe zu bieten hat.

Doch auf dem bunten Jahrmarkt der Eitelkeiten sind die „Normalos“ und „Normalas“ in der Mehrzahl. Ganze Familien haben sich in die Markthalle aufgemacht, um den Tattoo-SpezialistInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen und die tätowierten Leiber zu betrachten. Indianerköpfe und Sensenmänner, Drachen und andere Figuren im „Fantasy-Stil“ werden auf der Haut zu Markte getragen. Kein Motiv, daß man sich nicht auf den Körper gravieren lassen könnte.

Carola Schneider, die mit ihrem Mann ein Tattoo- und Piercing-Studio in Hamburg besitzt und die Hamburger Convention aus der Taufe gehoben hat, entdeckte ihre Liebe zum Tattoo mit knapp 16 Jahren. Um sich „aus der Masse herauszuheben“ ließ sie sich mit 17 Jahren ihr „erstes Bild“ verpassen, zu dem inzwischen viele weitere hinzugekommen sind.

Knallrote Lippen und rotgefärbte Haare, in Schwarz das geschnürte Lederkorsett, die Hot-Pants aus Lack und die Netzstrümpfe, bunt die unter der Netz-Ware hervorschimmernden Tattoos, dazu silberne und goldene Piercing-Sticker die auch Bauchnabel und Zunge schmücken - so fühlt sich die Veranstaltungs-Initiatorin „schön“. Gerade die Ringe seien „ein Körperschmuck“, den sie „nicht mehr missen möchte“.

„Piercing ist zur Zeit der totale Modegag“, beschreibt sie die Erfahrungen aus ihrem eigenen Studio. Bauchnabel und Augenbrauen stehen auf der Hitliste zur Zeit ganz oben, doch Carola Schneider ist sich sicher: „Viele Leute, die hier hinkommen, tragen das in zwei Jahren nicht mehr“. Obwohl der Schmuck in Nase, Lippe und Braue immer populärer wird, sei Body-Piercing für sie immer noch eine Provokation: „Wenn das jeder macht, würde ich meinen Schmuck sofort rausnehmen“.

Als sich der heute 58jährige Geschichtslehrer Richard* vor sechs Jahren den ersten Tattoo in die Haut meißeln ließ, war das für ihn „ein Ausbruch aus verlogenen Konventionen“. Inzwischen ist sein ganzer Körper von farbigen Blumenmotiven überzogen. „Ich bin froh, daß ich den Mut hatte, so spät noch einzusteigen“, bekennt der Pädagoge, der extra aus Offenburg in die Hansestadt gereist ist, um die Tatoo-Convention zu besuchen.

Dieter*, der 41jährige Dekorateur, der im Studio Hamburg arbeitet, entdeckte seine Liebe zum Tatoo bereits mit 15 Jahren. 1968 fand er einen Tätowierer, der ihm drei Herzen auf den rechten Oberarm gravierte, ohne sich daran zu stören, daß Dieter die vorgeschriebene Volljährigkeit noch nicht erreicht hatte. Heute wird sein gesamter Körper von Seefahrts-Motiven, Drachen und Tigern geschmückt. Für neue Kunstwerke, ärgert sich der Dekorateur, sei „nun leider kein Platz mehr“. Denn eine letzte Grenze mag er, „auch aus Angst vor der Reaktion meiner Umwelt“, nicht übertreten: „Mein Kopf bleibt Tattoo-frei“.

*Namen geändert