Greif zur Feder, Kumpel

■ Sammlung will die Texte der "Zirkel schreibender Arbeiter" vor dem Vergessen retten / Zwischen Beschreibung von DDR-Alltagskultur und Propagandakitsch

„Zirkel schreibender Arbeiter“ waren in der DDR kulturelle Aushängeschilder von Großbetrieben und Kulturhäusern. Getreu der Losung „Greif zur Feder, Kumpel“ formierten sich Ende der 50er Jahre nach der Bitterfelder Konferenz Bataillone schreibwilliger Werktätiger, denen besonders junge Autoren – darunter auch Christa Wolf, Brigitte Reimann und Erik Neutsch – das Abc des Dichtens beibringen sollten. Im Berliner Archiv „Schreibender ArbeiterInnen“ wurde vor einem Jahr begonnen, die noch vorhandenen Spuren einer Bewegung zu dokumentieren, die mit dem Scheitern des DDR-Sozialismus so gut wie verschwunden ist.

Die neugegründete Sammlung vereint mehr als 800 Bestände: Originaltexte, Anthologien, Zeitschriften und Betriebszeitungen, Brigadetagebücher sowie Korrespondenzen, Zirkel-Anleitungen und -Chroniken, selbst Urkunden, die literarische Qualitäten würdigen. Das größte Konvolut stammt vom VEB Carl Zeiss Jena – ein ganzer Waschkorb voll. Wie Barbara van der Heyden, eine von drei Mitarbeiterinnen, sagt, vermehrte sich das Material nach dem „Schneeballprinzip“. Sie erzählt vom Zirkelleiter, der die „Zeugnisse jahrelanger Mühen beim Schreiben“ nach der Wende mit nach Hause nahm, damit sie nicht, wie vielfach, im Reißwolf landeten. „Jetzt ist er froh, seine Garage zu räumen.“ Liselotte Senff aus Zossen, 1918 geborene Bäuerin, schickte neben mehreren Bänden ihres Werks auch jüngste Gedichte. Den Zirkel als Partner gibt es nicht mehr.

Das Archiv sieht seine Aufgabe in „möglichst lückenloser“ Dokumentation, einschließlich eines Nachweiskatalogs im Computer. Bisher wurden 200 Zirkel gezählt. Wahrscheinlich sei aber mit 1.000 Arbeitsgemeinschaften zu rechnen. 100.000 Titel seien anhand von Typoskripten nachlesbar. Die Kollektive „Schreibender Arbeiter“, in denen Lehrer, Krankenschwestern, Friseusen, Ingenieure und Bibliothekare ihr Freizeit- Hobby sahen, gehörten zu den „Nischen“ der DDR-Gesellschaft, wo Dinge ausgesprochen worden seien, die vielen mißfielen, meint Frau Heyden. Das Archiv sei eine Fundgrube für soziologische und literaturkritische Forschungen.

DDR-Alltag ist in „großer Fülle“ ausgebreitet: der tägliche Ärger mit der Versorgung, die Mängel in der Produktion, Gewalt in der Familie, Identitäts- und Generationsprobleme. Auch wie Selbstzensur funktionierte, ließe sich hier studieren, meint Frau Heyden. Die Zirkel verstanden sich nicht als Opposition. Aber ebenso falsch wäre es, ihre Arbeit nachträglich als „Lobhudelei“ oder als „trivial und nicht erwähnenswert“ zu verdammen.

Den „Rückzug in die rein private Sphäre“ kritisierte die Gewerkschaftsorganisation FDGB, mächtigster Förderer der kulturellen Massenarbeit zu DDR-Zeiten, an den Arbeiter-Dichtern ein Jahr vor dem Mauerfall. Beim Schreibwettbewerb „Ein gutes Wort zur guten Tat“ hatten 500 Autoren ihre Arbeiten eingereicht, die aber „sehr selten“ die „herangetragene Erwartungshaltung“ bedienten. Ein von Zirkelmitgliedern in Forst und Guben geschriebenes Programm „Wie könnt' ich dieses Land nicht lieben“ wurde abgelehnt, weil die „gewaltige Veränderung“ im Lausitzer Land „fast völlig außer acht gelassen“ sei und auch die „Lage an der deutsch-polnischen Friedensgrenze“ in keiner Weise reflektiert wurde.

Bei der inhaltlichen Auswertung wird mit der Neugier der Wissenschaft gerechnet. Interesse zeigen sowohl die Berliner Humboldt-Universität wie auch die Freie Universität. Das Archiv soll weiter wachsen. Rund 30 Angebote, so aus Premnitz, Auerbach, Borna und Zittau, warten auf Übernahme. Mittlerweile weiß man von 15 ostdeutschen Zirkeln, die als privater Freundeskreis oder literarisches Colloquium weiterbestehen. Einige der ostdeutschen Schreiber fanden für Texte zum Thema Treuhand und Stalinismus- Abrechnung eine andere Plattform: Die in Dortmund erscheinenden Hefte des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Irma Weinreich (dpa)