Das Erbe der Mystik

■ Der Islamwissenschaftler Smail Balic zur spezifischen Ausformung des Islam bei den bosnischen Muslimen

Der in Mostar (Herzegowina) geborene Islamwissenschaftler Smail Balić gilt als einer der besten Kenner der bosnischen Kultur- und Religionsgeschichte. In den achtziger Jahren gab er die Zeitschrift „Islam und der Westen“ heraus. 1992 veröffentlichte er beim Kölner Böhlau-Verlag „Das unbekannte Bosnien – Europas Brücke zur islamischen Welt“. Smail Balić lebt in der Nähe von Wien.

taz: Im Westen gibt es eine diffuse Angst vor dem Islam. Weltweit scheint der islamische Fundamentalismus an Boden zu gewinnen. Nach dem Iran der Sudan und morgen vielleicht schon Algerien. Muslimische Politiker aus Bosnien betonen denn auch immer wieder, in ihrer Republik handele es sich um einen säkularisierten Islam. Heißt das, daß bei den bosnischen Muslimen der Islam wesentlich als kultureller Bezug verstanden werden muß?

Smail Balić: Zunächst: Ich würde eher von einem traditionalistischen Islam sprechen. Es gibt in der islamischen Welt zwei Strömungen oder zwei Landschaften. Es gibt einen traditionalistischen Islam der Massen, der die Beziehungen im Alltag prägt. Und es gibt einen Islam, der bewußter in Erscheinung tritt, der manchmal auch eine politische Dimension hat. Dazu gehört der fundamentalistische Islam. Nun, der Islam auf dem Balkan ist von Haus aus traditionalistisch. Er wurzelt in gewissen Volksvorstellungen, die zum Teil vorislamischer Herkunft sind. In der religiösen Praxis gibt es eine Art Synkretismus. Vieles aus der Zeit der „Bosnischen Kirche“ (oft auch bogumilische oder patarenische Kirche genannt, eine christliche Häresie, zu der sich die Mehrheit der Bosnier vom 12. bis ins 15. Jahrhundert bekannte, A.d.R.) und auch vieles aus der vorchristlichen, heidnischen Zeit ist im bosnischen Islam aufgehoben. Es gibt eine Volksfrömmigkeit, die stark von mystischen Elementen durchsetzt ist. Die Mystik ist ein Sammelbecken verschiedener religiöser Vorstellungen, die in der Lehre nicht verankert sind. Auf dem Balkan waren die mystischen Orden immer sehr präsent. Die erste Begegnung mit den Osmanen erfolgte im Geiste der mystischen Welten. Die osmanischen Truppen der Janitscharen wurden sehr stark von den Bektaschi, einem mystischen (islamischen) Derwisch-Orden mitgeprägt. Die Bektaschi sind in religiöser Hinsicht offen und tolerant und neigen dazu, es mit gewissen religiösen Vorschriften nicht so genau zu nehmen. Sie gehen nicht sehr häufig in die Moschee, sie trinken Wein. Gerade dieser mystische Islam hat sich zunächst in Bosnien etabliert.

Was hat sich denn von der „Bosnischen Kirche“ in den spezifisch bosnischen Islam hinübergerettet? Worin sind die Spuren der Patarenen noch zu erkennen?

Die Tekkes, die Meditationszentren der Derwische, sind nichts anderes als eine Form der früheren bogumilischen Hižas, Versammlungshäuser der Patarenen, in denen meditiert wurde. Die Derwische halten ihre Andachten in den Tekkes ab, nicht in der Moschee. Solche Tekkes gab es in Bosnien und auch in Albanien sehr viele, bis in die kommunistische Epoche hinein. Unter dem Kommunismus wurden die Derwisch-Orden aufgelöst – und zwar auf das Betreiben der islamischen Gemeinschaft. Die Schriftgelehrten waren immer gegen die Mystiker. Es gelang ihnen, die kommunistische Führung zu überzeugen, daß die Derwische eigentlich keine richtigen Muslime seien. Die Kommunisten haben davon zwar nichts verstanden, aber das Argument kam ihnen offenbar gerade recht.

Gibt es denn heute in der nachkommunistischen Zeit noch Bektaschi-Derwische?

Es gibt sie wieder. Bereits im letzten Jahrzehnt ihrer Herrschaft haben die Kommunisten die Frage toleranter gehandhabt. Die Derwische konnten ihr religiöses Leben wieder aufnehmen und die Tekkes wurden wieder geöffnet. Schon 1973 wurde in Sarajevo auch die erste muslimische Hochschule, die islamische theologische Fakultät, gegründet.

Welche Bedeutung hat denn der Islam heute im Alltag der bosnischen Muslime?

Der Einfluß des Islams zeigt sich vor allem in der Kultur, in der Art des Lebens, in der Ausstattung der Häuser. Bei Muslimen zieht man die Schuhe aus, bevor man in die Wohnung tritt, die Räume sind mit Teppichen belegt, eine gewisse Reinlichkeit wird gepflegt, zumal das ja auch durch die religiösen Vorschriften, die Waschungen, nahegelegt wird. Es ist zum Beispiel undenkbar, daß in einem muslimischen Haus jemand auf den Boden spuckt wie etwa in einem Haus eines serbischen Bauern, wo es eben keine Teppiche gibt.

Spielt denn die Religion bei den Muslimen im Alltag eine größere Rolle als bei den Katholiken oder bei den Orthodoxen?

Ja. Bei den Muslimen hat die Religion eine Lebensart erzeugt, die gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das ist das Charakteristikum des traditionellen Islam, das ist nicht von einer Reflexion getragen. Es geht eher um einen gewissen Lebensstil, der sich seit Jahrhunderten tradiert. Man hat in der Regel auch muslimische Namen, das heißt Namen arabischer, türkischer oder persischer Herkunft. In den letzten 30 Jahren gab es da aber schon einen deutlichen Auflösungsprozeß. Man griff immer mehr auch auf moderne Namen zurück, die die religiöse Identifizierung der Person erschwerten.

Sehen Sie Anzeichen dafür, daß die bosnischen Muslime nun aufgrund des Krieges sich verstärkt auf ihre nationale oder religiöse Identität besinnen?

Die Genüßlichkeit, mit der der serbische Aggressor alle Bezugspunkte der kulturellen und religiösen Identität der Muslime zerschlägt, provoziert eine religiös motivierte oder eine religiös gefärbte Antwort. Es kommt nun in der Tat zu einer Rückbesinnung der Muslime auf ihre Fundamente, insofern werden sie nun ungewollt neu islamisiert. Sie wollten ja den Krieg nicht und konnten sich auch nicht vorstellen, daß auf der andern Seite die Religion als Mobilisierungsfaktor in Anspruch genommen würde. Der serbische Aggressor mobilisiert bei seinen Truppen alte religiöse Vorstellungen und Mythen. Es gibt die Losung, die sich auf die historische Niederlage der Serben gegen die Türken auf dem Amselfeld in Kosovo vom Jahre 1389 bezieht: „Wer nicht Rache nimmt, kommt nicht in die Nähe der Heiligen.“ Die serbische Bevölkerung, vor allem die ländliche, ist eine primitive Bevölkerung, die sich auch leicht mißbrauchen läßt. Ihre geschichtlichen Vorstellungen schöpft sie aus den Volksliedern und der Volksdichtung, die oft mit der wirklichen Geschichte sehr wenig zu tun haben. Hierhin gehört etwa die Annahme, daß die Bosnier islamischen Glaubens eigentlich Serben seien und daß sie durch den Übertritt zum Islam einen nationalen Verrat begangen haben. Oder daß die bosnischen Muslime Quislinge der Türken waren. Natürlich gab es unter den Muslimen Kollaborateure der Türken, aber insgesamt haben die Bosnier es geschafft, im Schatten der osmanischen Herrschaft eine beschränkte Selbständigkeit zu bewahren. Die Serben hingegen sind oft als Diener der Türken in Erscheinung getreten. Der größte serbische Nationalheld, Marko Kraljević, war ein türkischer Vasall. Viele serbische Fürsten und Vögte haben sich den Osmanen gegenüber sehr servil verhalten.

Woran läßt sich denn die stärkere Rückbesinnung der Muslime auf ihre Kultur und Religion feststellen?

Zunächst weiß man nun plötzlich, daß man nicht Serbe ist, nicht Kroate ist, eben anders ist. Der Präsident Alija Izetbegović hat den Satz geprägt: „Wir werden siegen, weil wir anders sind.“ Die Muslime zerstören eben nicht die kulturellen und religiösen Bezugspunkte der Serben und Kroaten. Allerdings hat es auch schon früher dieses muslimische Selbstverständnis gegeben, anders als die Katholiken oder die Orthodoxen zu sein. Es gibt ein geflügeltes Wort: „Es ist leicht, kein Muslim zu sein. Du sollst nicht in der Moschee beten, du sollst im Ramadan nicht fasten, du sollst nicht die soziale Abgabe von zweieinhalb Prozent leisten, und schon bist du ein ausgemachter Nicht-Muslim, ein Vlah. Das ist ein muslimisches Schimpfwort für die Serben, für die eingefleischten Anti-Muslime.

Welche Bedeutung wird der Islam nach Kriegsende haben, wenn es endlich so weit kommt?

Er wird mit einem gestärkten Bewußtsein aus dem Krieg hervorgehen. Die Greueltaten, die der muslimischen Bevölkerung angetan worden sind, können nicht so leicht vergessen werden. Aber die Mentalität der Bosniaken wird sich nicht ändern.

Nun gab es ja während des Zweiten Weltkrieges nicht weniger Greuel, Hunderttausende kamen um, oft auf bestialische Weise. Hat nur die kommunistische Knute das Zusammenleben ermöglicht?

Der Kommunismus hatte immerhin gewisse humane Züge. Auch wenn es deklamatorisch gewesen sein mag, so war es doch sehr wichtig, daß das Prinzip „Brüderlichkeit und Einheit“ aufgestellt wurde, daß ein Bewußtsein über gemeinsame Interessen, über eine gemeinsame Heimat und über die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen, wachgehalten wurde. Zudem hat Tito rigoros versucht, die Kriegsverbrecher vor die Schranken der Justiz zu bringen. Das war sehr wichtig, weil es die Verständigung erleichtert hat. Das muß auch heute getan werden. Sonst gibt es für Bosnien-Herzegowina keine Lösung. Interview: Thomas Schmid