■ „Weimar“ und Europas Schuld am italienischen Rechtsruck
: Ernst nehmen, was in Italien läuft!

Zeitgeschichtler und Politiker, zumal deutsche, haben seit eh und je gerne übersehen oder geleugnet, was Historiker früherer Epochen längst erkannt haben: daß Italien – und nicht nur das alte Rom – für weite Teile Europas immer eine Vorreiterrolle gespielt hat. Aus Italien kam allerhand, vom Frühkapitalismus (ein halbes Jahrhundert vor den Fuggern) über die Reichseinigung (ein Jahrzehnt vor der deutschen) bis zum Faschismus (elf Jahre früher) und der Mitte- Links-Regierung (fünf Jahre vor unserer Großen Koalition, sieben vor der sozialliberalen), ganz zu schweigen von den vielen kulturellen Anstößen aus dem Süden.

Italien war stets ein Land nahe dem Chaos, aber aus diesem Chaos heraus war es stets zu unvermittelten, oft wegweisenden Aufbrüchen fähig. Durchaus möglich, daß wir derzeit erneut eine solche Wende erleben; ob zum Besseren oder zum Schlechteren, ist allerdings wieder einmal die Frage.

Auf jeden Fall ist es nicht damit getan, Italien ein weiteres Mal als exotisches Land abzutun, das eben tausenderlei folkloristische Elemente auch in der Politik aufweist. Was sich derzeit in Italien abspielt, kann langfristige, überaus schwere Auswirkungen auf ganz Europa haben. Denn nicht der Fernsehverführer Berlusconi oder der polternde Separatist Bossi hat Italiens Demokratie auf dem Gewissen, sondern, sorry, der Großteil von Europa, und mittenmang wir Deutschen.

Jahrzehntelang sahen sich unsere Politiker, bei Besuchen im Land, wo die Zitronen blühn oder bei Visiten von dorten, als die „großen Brüder“ ungezogener Kinder. Italiens Politiker galten den unseren als Liederlinge, die nicht so recht auf der Höhe moderner Gesellschaft und Politik sind und im Grunde nur danach trachten, wohlmeinende Gönner über den Tisch zu ziehen. Ludwig Erhards Bevormundungsversuche, Helmut Schmidts präpotente „gute Ratschläge“, Kohls Tolpatschigkeit, die keinen Fettnapf ausläßt – die Kontinuität deutscher Italienpolitik ist wirklich beeindruckend.

Als Italien Hilfe brauchte, weil die Franzosen ihnen mit ihren in Brüssel durchgesetzten Normen faktisch die gesamte Landwirtschaft zerstörten, blieben die Italiener alleine. Als der Kampf gegen die Mafia längst nicht mehr nur eine sizilianische Angelegenheit war, sondern die gesamte Demokratie Italiens bedrohte, kam von nirgendwoher Hilfe. Am wenigsten aus Deutschland, das allenfalls über die mangelnde Effizienz der Carabinieri spöttelte und dabei völlig übersah, wie weit sich dieser Krebsschaden bereits im eigenen Land ausbreitet. Als die Lira vor zwei Jahren senkrecht abstürzte, lag dies daran, daß Italien absprachegemäß ein Geldwäschegesetz verabschiedet und damit einen Großteil der illegalen Spekulationsgelder verloren hatte – während wir Deutschen noch weitere zwei Jahre warteten und uns die Wiedervereinigung von den Dunkelmännergeldern bezahlen ließen, Massenarbeitslosigkeit weit über dem europäischen Durchschnitt, Haushaltsdefizite in astronomischer Höhe und eine erneut ansteigende Inflation sind die Folgen dieser Mixtur traditionsreicher europäischer Deckelung.

Daß sich ein solches Land früher oder später von allen verlassen und betrogen fühlen würde, war abzusehen; die geradezu zwingende Konsequenz darauf ist die Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte, und das bedeutet in der verbreitetsten Form eben die Verkürzung auf Nationalismus. Zuerst versuchten sich die – im Vergleich zum Rest des Landes relativ reichen – Norditaliener in einem Versuch des rigiden Egoismus mit Hilfe der „Ligen“ abzunabeln von der Zentrale und vom Süden, in der Meinung, sich als autonome Republik ins europäische Ellenbogenreich eintreten zu können; doch mittlerweile mußten sie erkennen, daß daran niemand ein Interesse hat. Das wiederum hat nun die Türen für einen wie Berlusconi geöffnet, der alle Ingredienzien mitbringt, die Illusion eines kraftvollen Wiederaufstiegs auch ohne – oder gar gegen – Europa zu nähren: ein Mailänder (wie die Herolde der „Ligen“); ein Unternehmer mit einem glitzernden Imperium (bei dem nach dem Wahlerfolg nun auch niemand mehr nachfragt, wie nahe der Pleite es eigentlich steht); vor allem aber Strahlemann und Verkünder überaus simpler Rezepte (wie Steuerermäßigung und Arbeitsplatzbeschaffung in Millionenhöhen – Reagan läßt grüßen). Kurz, ein Erfolgsmensch, an den sich anzuhängen für viele Italiener schon einen Versuch wert scheint.

Natürlich werden da viele Schatten lebendig. Die der Republik von Weimar etwa, mit ihrer – auch damals von den Großmächten voller Verständnislosigkeit noch geschürten – Wirtschafts- und Kulturkrise und den landauf, landab auftretenden Volksverführern, die am Ende auf den einen allergrößten hinausliefen, Hitler.

Berlusconi ist kein Hitler, und wenn ihn auch die Persönlichkeit speziell des jungen (noch stark im Sozialismus verhafteten) Faschistenführers Mussolini fasziniert, so ist er doch auch kein „Duce“. Ein alarmierendes Zeichen ist sein Erfolg und sein – wahrscheinlicher – Einzug ins Amt des Ministerpräsidenten aus anderen Gründen: Der Dank, den er und seine Alliierten, wenn auch alle auf unterschiedliche Weise, ihren Gönnern und Promotoren in Form „angemessener“ Politik abstatten müssen, wird den jahrelangen Kampf gegen Mafia und Dunkelmännerzirkel zur Makulatur machen – weil just diese stark am Erfolg der Rechten mitgewirkt haben.

Aber Berlusconis künftige Danksagung muß widersprechende Wünsche befriedigen. Er muß gleichzeitig die gegen den Süden allergische Klientel der Ligen im Norden und die mafios-parasitär durchsetzten, aber für den Wahlerfolg entscheidenden Regionen ebendieses „Mezzogiorno“ befriedigen; er muß dem Großunternehmertum der lombardischen und piemontesischen Industrie ebenso zu Diensten sein wie den existenzbedrohten Mittelständlern, der Hauptklientel der Ligen und Neofaschisten. Und er muß gleichzeitig den Haushalt sanieren und an seine Wahlleute kostspielige Pfründe vergeben. All dies wird mit großer Wahrscheinlichkeit zur Blockade der Regierungstätigkeit führen.

Die Alternative hierzu: Man hangelt sich, nach alter Gewohnheit, mit Scheinlösungen fort, so lange, bis der Staat vollends geplündert ist. Da dies angesichts der sowieso schon tristen Lage nur kurz halten wird, steht auch hier am Ende die Regierungsunfähigkeit.

An der Stelle kommt es dann zur Entscheidung: Wird die Rechtsregierung im Falle des dann unvermeidlichen Autoritätsverfalls mit nachfolgenden Wahlpleiten wieder von der Macht lassen? Oder wird sie, wie weiland Mussolinis Faschisten, dann den Mangel an Erfolgen durch eine interne Unterdrückungspolitik und – möglicherweise – außenpolitische Abenteuer (etwas auf dem hierfür derzeit besonders offenen Balkan) kompensieren?

Europa steht damit vor einer kaum mehr lösbaren Aufgabe: Was bis vor kurzem noch zu einer Stabilisierung der Demokratie beigetragen hätte, nämlich ein Ernstnehmen der Schwierigkeiten im Lande und solidarisches Verhalten bei den Hauptproblemen des Volkes, hilft ab heute vor allem einer Regierung, die damit nur die versprochene Europa-distanzierte Stellung stärken wird. Die Chance, aus Italien einen vollwertigen Pfeiler Europas zu machen, haben unsere Vollbluteuropäer gründlich verspielt. Werner Raith