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„Zeit für eine andere politische Kultur“

Interview mit Ex-Verfassungsrichter Helmut Simon über Minderheitenschutz für Sinti und Roma / Wie die Bundesregierung internationale Vereinbarungen verbiegt, um Sinti und Roma auszugrenzen  ■ Von Hans Monath

Bonn (taz) – Die rund 70.000 Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit fordern von der Bundesregierung den gleichen Minderheitenschutz, wie ihn Dänen und Sorben genießen. Bonn weigert sich, sie als nationale Minderheit anzuerkennen. Die taz sprach mit dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, Helmut Simon, über das Problem des Minderheitenschutzes.

taz: Vor einem Jahr haben Sie im Auftrag des Zentralrats der Sinti und Roma ein Gutachten erstellt, in dem es um die rechtlichen Möglichkeiten zum Schutz vor diskriminierender Berichterstattung ging. Was war das Ergebnis?

Simon: In meinem Gutachten ging es nicht um wahrheitswidrige Meldungen und diffamierende Herabsetzungen – vor beidem besteht ausreichender Schutz. Es ging um die besondere Problematik, ob ein wahrheitsgemäßer Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit eines Täters unzulässig ist, wenn dieser Hinweis diskriminierend wirkt. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dies unterbunden werden muß.

Wie war die Wirkung des Gutachtens?

Das Gutachten ist an den Presserat gegeben worden, auch an Rundfunkanstalten. Wir hatten zunächst die Hoffnung, es würden in den Presserichtlinien und in den Satzungen der Rundfunkanstalten entsprechende Vorkehrungen getroffen. Das ist nicht geschehen.

Warum nicht?

Die internen Beratungen kenne ich nicht, aber ich vermute, daß die Sorge dahintersteht, es solle möglichst nicht ins Grundrecht der Pressefreiheit eingegriffen werden. Dafür habe ich auch Verständnis. Die Richtlinien des Presserates beinhalten ja auch schon ein gewisses Diskriminierungsverbot – das genügt aber nicht. Ich habe vorgeschlagen, daß in der Berichterstattung über Straftaten der Hinweis auf die Zugehörigkeit eines Täters zu unterbleiben hat, wenn nicht für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein zwingender Sachbezug besteht.

Für die Pressegesetzgebung sind die Länder zuständig. Wie war ihre Reaktion?

Die Länder haben mit grundsätzlichem Verständnis reagiert, einige haben auch mitgeteilt, daß sie an ihre Polizei- und Justizbehörden entsprechende Erlasse herausgegeben haben, die ethnische Zugehörigkeit einzelner Täter solle nicht erwähnt werden. Die Presserechtsreferenten der Länder sollen Mitte des Jahres über diese Problematik beraten.

Wären die rechtlichen Möglichkeiten nicht größer, wenn die Bundesregierung Sinti und Roma Minderheitenschutz gewährte?

Ein automatischer Schutz entstünde nicht. Wenn Minderheitenschutz als Staatsziel verankert wäre, müßte er in konkrete Bestimmungen umgesetzt werden. Die Umsetzung und die damit verbundene Einschränkung der Pressefreiheit wären aber leichter.

In der Gemeinsamen Verfassungskommission wurde diese Staatszielbestimmung diskutiert: Nicht nur eine Achtungsklausel („Der Staat achtet die Identität der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten“), sondern eine Schutzklausel („Er [der Staat, d. Red.] schützt und fördert nationale und ethnische Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit“) sollte verankert werden.

Die weitergehende Schutz- und Förderungspflicht fand in der Kommission keine Zweidrittelmehrheit. Das ist abgelehnt worden, teilweise unter Hinweis darauf, daß für die Minderheit der Sorben und Dänen in den entsprechenden Landesverfassungen Schutzklauseln bestehen. Aber auch darüber hinaus mit einer bemerkenswerten Begründung: Hinter dem von der SPD vorgeschlagenen Satz verberge sich das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft. Die Gegner dieses Konzeptes wollen hingegen, daß sich die Minderheiten integrieren müssen.

Sehen Sie bei der Weigerung der Bundesregierung, den Sinti und Roma Minderheitenschutz zu gewähren, auch ähnliche Motive?

Es ist schon eigentümlich, daß Vereinbarungen auf internationaler Ebene beziehungsweise Entwürfe eingeengt wurden in der deutschen Übersetzung. Auf internationaler Ebene hat man einen Schutz für Minderheiten, „die lange in dem Territorium eines Staates leben“, vorgesehen. In der deutschen Übersetzung hat man von „angestammten Siedlungsgebieten“ gesprochen. Das bedeutet: Sorben und Dänen haben angestammte Siedlungsgebiete. Sinti und Roma nicht, sie sind über die ganze Bundesrepublik verteilt.

Sagt der Streit um den Schutz von Sinti und Roma etwas aus über unsere politische Kultur?

Ich denke, ja. Es geht nicht nur um Sinti und Roma, sondern um die Einstellung gegenüber nationalen oder ethnischen Minderheiten. Es wird Zeit, daß wir hier eine großzügigere politische Kultur entwickeln.

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