Was tun für 100 verelendete Obdachlose

■ Soll man Obdachlosen „medizinische Streetworker“ auf den Hals schicken? / Ein Interview

„Menschenverachtend“ – dieses und andere harte Urteile hat sich Kurt Huuk nach einem Artikel der taz (19.3.) über einen elend gestorbenen Obdachlosen anhören müssen, in dem Huuk zitiert wurde. Huuk ist Leiter des Sozialzentrums der Inneren Mission und hat sein Büro im Jakobushaus, auch Papageienhaus genannt. „Ich bin nicht der Ansicht, daß man jedem hinterherrennen sollte und solange an ihn hinschwätzen, bis er sein offenes Bein oder seine Tuberkulose behandeln läßt“, hatte Huuk gesagt. Es hagelte Leserbriefe.

taz: Menschenverachtung hat man Ihnen wegen der Bemerkung vorgeworfen, daß man nicht hinter jedem Obdachlosen mit offenen Beinen herrennen kann ...

Kurt Huuk: Ist es ja auch, erst einmal, also wenn das so rüberkommt. In der Regel wissen doch alle Obdachlose, wo sie in Bremen Hilfe bekommen. Und in der Regel nehmen die Leute, die auf der Straße leben, diese Angebote auch an, ob das nun der Bremer Treff ist, die „Tasse“, sonntags in der Stephani-Gemeinde, oder ob das in Bremen Nord von mehreren Kirchengemeinden organisierte Treffs sind.

Man muß halt schauen, daß man diejenigen, die in lebensbedrohlichem Zustand sind, ärztlich versorgen läßt. Das geht aber oft nicht in dem Zustand, in dem sie gerade sind.

Warum nicht?

Weil manche Ärzte das ablehnen, bis hin zu Krankenhäusern.

Können Sie da Namen nennen?

Das ist uns quer durch ganz Bremen passiert, bis dahin, daß ein Krankenwagen einen Menschen gar nicht losgeworden ist in Bremer Krankenhäusern und die den wieder zurückgebracht haben.

Aber liegt es nicht auch ein wenig an den Obdachlosen selbst, die sich einfach weigern, ihre Gesundheit ernstzunehmen?

Das ist ein Prozeß, auch eine allmähliche Resignation: daß sich bei jemandem die Selbstwahrnehmung völlig verändert, daß er sich nicht mehr riecht, daß er sein Urin und seinen Stuhl nicht mehr halten kann.

Zwingen Sie die Gäste des Papageienhauses dann?

Erstmal versuchen wir, die Leute dahin zu bringen, daß sie sich duschen, Wäsche waschen. Das wird in der Regel auch angenommen. Jemand, der die Erfahrung macht, daß er gewaschen und mit sauberen Klamotten auch anders angenommen wird, wird das auch immer wieder tun. Das geht natürlich nicht, wenn er draußen wohnt. Bei denen, die nur zum Mittagessenhierherkommen, ist das allerdings schwieriger. Wenn wir die ansprechen, die aber sagen „das interessiert mich nicht“, haben wir keinerlei Möglichkeiten.

Kann man die nicht mit Gerichtsbeschluß zum Arzt zwingen?

Nur wenn jemand massiv krank ist, auch psychisch krank, so daß wir nicht mehr an ihn herankommen. Dann gibt es dieses Verfahren über den sozialpsychiatrischen Dienst und über das Amtsgericht.

Wie oft kommt das vor?

Alle paar Monate.

Das heißt a, daß Sie sehr wenige der Kranken wirklich erreichen.

Nein. Die Leute, die sich seit vielen Jahren in der Szene bewegen, und um die geht es ja vor allem, die haben häufig Kontakt zu uns, zum Haus, zur Cafeteria, weil sie sich hier versorgen können oder im Warmen sitzen können. Da können die MitarbeiterInnen einen Arzt vermitteln.

Wird das angenommen?

Zum Teil schon.

Wieso nur zum Teil?

Nicht jeder nimmt das für sich an. Es gibt einige, die sagen, wir wollen uns außerhalb jeglicher Versorgungssysteme organsisieren, das ist unser Ding.

Bräuchte man da nicht aufsuchende SozialarbeiterInnen mit medizinischer Ausbildung, die die Obdachlosen auf der Straße aufsuchen, wenn sie denn nicht von alleine kommen?

Es gibt ja diese aufsuchende Dienste. Zum Beispiel über den psychiatrischen Dienst oder das Amt für soziale Dienste, in Hotels, in Pensionen, wenn gemeldet wird, daß da mal nachgeschaut werden muß...

Aber die gehen ja nicht in Parkanlagen rum ...

Aber man lebt doch nicht nur auf Straßen! Die, die zum Beispiel im Lloydtunnel gewohnt haben oder an der Bischofsnadel, die sind uns doch lange bekannt. Die kennen auch die Hilfsangebote, die müssen nicht aufgesucht werden. Und das sind ja im Vergleich zu den zweieinhalb tausend wohnungslosen Menschen in Bremen auch nur 50 bis 100 verelendete Obdachlose.

Christine Holch