Nationaltherapie für die Linke

■ Betr.: „Eine große nationale Auf gabe“, Interview mit Dr. Tilman Fichter, taz vom 26.3.94

Endlich hat der Verteidiger rechtskonservativer Medienmacht (Zitelmann und Co.), der unerschrockene Tabubrecher Tilman Fichter, uns Linken einige Tips zur Überwindung unserer Verweigerungshaltung gegenüber der „nationalen Frage“ gegeben.

1. Zunächst gilt es die typische Sprachblockade zu überwinden: Das Wort Deutschland muß über die Lippen! Da hilft nur regelmäßiges Üben, und zwar laut und deutlich: Toitschland, Toitschland...

2. Demokratie als solche taugt nicht viel, sie muß auch stark und deutsch sein. Das darf man nicht den Rechten überlassen, da muß die Linke mit anpacken. Also: Deutsches Militär hinaus in die Welt, so machen es die Franzosen schon lange, und an denen sollten wir uns sowieso ein Beispiel nehmen. Und auch nach innen kann die deutsche Demokratie noch stärker werden. Da helfen Lauschangriffe u.ä. gegen hartnäckige Verweigerer und Kriminelle. Einige in der SPD haben das schon erkannt, vor allem Scharping hat hier, wie Fichter betont, große Möglichkeiten.

3. Der furchtbare Krieg der Linken gegen sich selbst und das eigene Volk muß beendet werden. Durch Verlegenheit in der nationalen Frage und mit soziologischer Distanz in der Sprache wurde nach 1945 eine Politik gegen die Mehrheit der Deutschen gemacht. Das Resultat ist nationale Würdelosigkeit. Fichters Rezept: ohne Angst hinein in die Volksgemeinschaft des demokratiefähigen deutschen Volkes. Das macht die Demokratie stabil, da hält sie locker tausend Jährchen.

4. Weg mit dem Jargon der Sozialpolitik, wenn es um die große nationale Aufgabe geht! Es bedarf nun mal der nationalen Klammer, um dem braven Arbeiter in Wuppertal zu erklären, warum er auf einen Teil seines Lebensstandards verzichten soll, wenn es um die Menschen im Sachsenland geht. Sonst macht er sich womöglich noch Gedanken um die Menschen in Warschau oder Moskau, die Flüchtlinge aus Rumänien oder Kurdistan oder die dort unten in Afrika und Asien. Und die haben ja schließlich mit unserer gemeinsamen Geschichte, Kultur und Sprache nicht das Geringste zu tun.

Übrigens: Über Komplikationen und unerwünschte Nebenwirkungen seiner Therapie gibt Fichter leider keine Auskunft.

Den Verdacht, daß seine Therapie nicht nur völlig ungeeignet ist, dem zunehmenden Nationalismus und Rassismus in Deutschland zu begegnen, sondern, ganz im Gegenteil, dazu beiträgt, den ideologischen Boden zu bereiten, auf dem sie gedeihen, würde Fichter sicherlich als Ausdruck einer hartnäckigen linken Verweigerungshaltung diagnostizieren. Guntram Fink, Berlin

Die Fragen von Dieter Rulff an Tilman Fichter sind ja sehr erfrischend, nur wenn man sich nach den möglichen Folgen fragt, dann reduzieren sich die auf die Vorbereitung eines neuen Buches durch Tilman Fichter, welches Zitelmann herausgeben wird.

Welch anderen Sinn sollen denn Tilman Fichters dialektische Phantasien sonst noch haben? Seine Berufung auf das französische und polnische Modell bezüglich erfolgreicher Trägerschaft nationaler Einigungsideen ist wohl präzise kalkuliert und wird die Auflage des zu erwartenden Buches sicherlich erhöhen.

Es ist auch anzunehmen, daß dieses Buch ein umfangreiches Kapitel über Rosa Luxemburg enthalten wird, T. Fichter geht es ja schließlich um die Andersdenkenden. Unter anderem ist auch zu vermuten, daß T.F. sein Geheimnis lüften wird, warum Rosa Luxemburg die national-polnische Einigungsidee so sehr bekämpft hat. Lothar Mischkowski, Berlin

Wenn Linkssein heißt, aufgeklärt zu sein, so kann man die bohrenden Fragen von Dieter Rulff zwar berechtigt, aber doch penetrant finden. Warum argumentiert er unaufhörlich aus der Verfassungsdefinition des Jus sanguinis heraus, anstatt auf Tilman Fichters Vorstellungen einzugehen und die gemeinsame Geschichte und Kultur, beginnend bei der Sprache, als den Nervus rerum einer Nation anzuerkennen? Steckt dahinter die Angst, daß der gemeinsame Sprachraum im Schwinden ist? Wenn bald eine der Computersprachen die Vorherrschaft antreten würde oder Schüler angelernt, nur bis zur Prüfung sich in Teilsprachen ausdrücken könnten, um nachher mit 500 Worten durchs Leben zu gehen – dann allerdings wäre es um die geistige Grundlage einer Nation schlecht bestellt.

Warum können wir nach dem Motto „Global denken – lokal handeln“ den deutschen Geschichts- und Kulturraum nicht als Region auffassen, geprägt von spezifischen Reaktionsweisen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Selbst die EU oder die USA sind nicht in der Lage, die Menschenrechtsfrage zu lösen. Dazu bedarf es der „gewachsenen“ Beziehungen. Wo von ihnen zu schnell abstrahiert wird, entsteht eine Welt, wie sie an vielen Orten nicht mehr nur Bild, sondern schaurige Wirklichkeit ist. Die Weltverbindungen auch der Religionen und Weltanschauungen („gemeinsames Weltethos“) sind als Fluchtburgen ungeeignet. Flüchten ist eins, zum häuslichen Niederlassen gehört die Kenntnis der Quellen, des Untergrunds und des Klimas vor Ort, und das auf allen Ebenen, physisch, seelisch und geistig.

Das alles steckt hinter dem Begriff Nation. Weltmensch kann nur ein Gewachsener, ein Erwachsener sein, zu dem hin wir uns anscheinend langsamer entwickeln als je zuvor. Offenheit ist ein Resultat von Reife mit einer Ausnahme: In der frühen Kindheit ist sie ein Geschenk. Gisela Canal, Ulm

Es ist sehr kindisch, wenn wir die Menschen nur danach definieren, was sie von sich behaupten, und dabei ihre Taten und politische Handlungen übersehen. Was wir neulich unter anderem in der rechten Zeitung Junge Freiheit und in der taz von einigen „linken“ und politisch Engagierten sahen, ist nicht der Schrei des einsamen Mannes. Das ist Teil einer politischen Kampagne von Aktivisten und ehemaligen Linken.

Was sie alle, Schröder, Fichter, Walser, Kowalsky usw., miteinander zweifellos und eindeutig verbindet, ist der Wunsch nach „Normalisierung des Staatsnationalismus“. Sie sind schon lange politisch pleite und versuchen auf diese Art und Weise, eine neue Strategie zu entwickeln. [...] Es ist doch eine Frage wert, warum unter den vielen Themen gerade jetzt der Nationalismus von ihnen angesprochen und aktualisiert wird. [...]

Sie führen Gespräche mit denjenigen, deren geistige Kinder für dieses Heute und ihre politischen Väter für ein noch schrecklicheres Gestern verantwortlich sind. Man vergißt, diese „Kleinigkeiten“ anzusprechen. Aber es wird nicht vergessen, die Linke zu kritisieren.

Fichter behauptet in der taz, daß er zur linken Ecke gehöre. Das ist ein alter, aber immer noch verwendbarer Trick, auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Was ist die Linke? Wer ist ein Linker? Wie wird überhaupt die Linke und die Demokratie definiert?

[...] Es wird behauptet, daß durch solche Gespräche ein praktischer Schritt zur Erweiterung der Demokratie betrieben wird. Ein Rückblick auf die jüngste Vergangenheit zeigt, daß die „demokratische“ Förderung dieser Art von Rechtsradikalen wie JF gleich null ist. In ihrer „moderaten“ Rechtspolitik weist absolut nichts auf die demokratischen Rechte der BürgerInnen, Andersdenkender und in dieser Gesellschaft lebender Minderheiten hin. [...]

Fichter hat Rosa Luxemburg nicht verstanden. Er kann nicht verstanden haben, daß Intoleranz nicht toleriert werden kann und darf. Im Namen der Rechtsradikalen beschwert sich Fichter, daß sie nicht toleriert werden. Hat sich Fichter gefragt, ob Rechtsradikale andere tolerieren? Wir können unsere Augen nicht verschließen, um nicht zu sehen, was Nationalismus auf der ganzen Welt angerichtet hat: Ex-Jugoslawien, Armenien, Aserbaidschan, Rußland... rassistisch-faschistische Angriffe fast überall und unter anderem zwei Weltkriege.

Das Bild, das demokratische, antifaschistische Linke heute von Rechtsradikalen haben, ist nicht das gewünschte Bild der „Versöhner“ mit Rechtsradikalen. Sie haben den Geist noch nicht aus der Flasche gelassen. Die Überraschung kommt noch. Keiner von ihnen hat sich bis heute geäußert, was der Unterschied zwischen ihrer „Normalisierung“ und der von Rechtsradikalen gewünschten „Ordnung“ ist. Die „demokratische“ Antwort der Rechten auf die Ausländer„frage“, Brandanschläge auf Ausländerheime, Wohnhäuser, ermordete Ausländer, die Lübecker Synagoge und Terrorlisten gegen Demokraten gehören zum aktuellen Nationalismus.

Zum Schluß mache ich Herrn Fichter und Gleichgesinnten einen Vorschlag: Stellen Sie sich die Frage andersherum: Was sind Ursachen von Rassismus und Faschismus zum Beispiel in Deutschland, Polen, Bulgarien, Ungarn, Rußland, der Ukraine und so weiter? Wie kann man sie bekämpfen und dabei die Demokratie vertiefen? [...] Behsad Sabouri, Berlin