„Wir glauben auch heute noch an den Sieg“

Der Krieg in der Kaukasus-Enklave Berg-Karabach geht mittlerweile in das siebte Jahr. Auch der letzte Waffenstillstand ist gescheitert.  ■ Aus Stepanakert Julia Jacoby

Vier Infusionsflaschen hängen an dem Gestell neben dem Bett. Dünne Schläuche führen zu dem bewußtlosen jungen Mann. Ab und zu stöhnt er auf, kurz krampft sich sein Körper zusammen. Auf dem Boden stehen drei weitere Flaschen, zu ihnen führen die Schläuche unter der Bettdecke. Die Flaschen sind gefüllt mit einer hellroten Flüssigkeit. Schwer verwundet bei den Kämpfen um Omar, liegt Aschot Grigorjan im Armeekrankenhaus in Stepanakert, der Hauptstadt der selbsternannten Republik Berg-Karabach.

Mitte Februar ging der Krieg zwischen den Karabach-Armeniern und den Aserbaidschanern ins siebte Jahr. Ein Frieden ist nicht abzusehen, im Gegenteil: die Krankenhäuser und Lazarette sind voll mit Verwundeten. 8.000 Tote auf aserischer, 600 auf karabachischer Seite lautet nach armenischen Angaben die traurige Bilanz der letzten zwei Monate. Auch der jüngste Waffenstillstandsvertrag war schon am Tage seines Inkrafttretens am ersten März Makulatur. Die Kriegsparteien beschuldigen sich gegenseitig, zuerst geschossen zu haben.

Omar, dieser Name taucht zur Zeit bei jedem Gespräch in Karabach irgendwann auf. Omar, das war ein Schock. Dort kamen so viele Menschen um wie im vergangenen Jahr im gesamten Kriegsgebiet. „Omar ist ein Paß, der den Übergang über die 3.700 Meter hohe Mraw-Gebirgskette ermöglicht. Er kann mit hundert Leuten verteidigt werden und ist der wichtigste Schlüssel für Kelbadschar, das Gebiet zwischen Armenien und Berg-Karabach.“ An der Karte erklärt Maxim Howannisjan, Chef der Presseabteilung der Republik Berg-Karabach, den Frontverlauf. „Wir haben Omar in der Neujahrsnacht verloren und erst seit dem 19. Februar wieder unter unserer Kontrolle.“

Der blutige, von der Weltöffentlichkeit kaum beachtete Krieg geht mittlerweile in das siebte Jahr. Mit der Eroberung der aserbaidschanischen Stadt Kelbadschar im April letzten Jahres erregten die Karabach-Armenier für einen kurzen Moment internationales Aufsehen. Sie seien „Aggressoren“ und verstießen gegen das Völkerrecht, warf man ihnen vor. Die Entstehungsgeschichte des Konflikts interessierte die schnellen Kommentatoren nicht.

Seit 1988 kämpfen die Karabach-Armenier um ihr Land, in dem sie damals noch 75 Prozent der Bevölkerung stellten. Vom sowjetischen Nationalitätenkommissar Stalin war Karabach 1920 den Aseris zugeschlagen worden. Die 70 Jahre unter der Regierung Bakus werden heute von den Karabachern als „weißer Genozid“ bezeichnet. Durch ökonomische und kulturelle Unterdrückung sollten sie für immer vertrieben werden. Versuche, die Loslösung aus dem aserbaidschanischen Staatsgebilde im Zuge von Perestroika auf legalem Wege zu erreichen, beantwortete die aserbaidschanische Regierung mit Gewalt. So kam es zu lancierten Pogromen gegen die armenische Minderheit in Aserbaidschan, zu Deportationen von Dörfern in Berg-Karabach, zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Noch 1992 standen die aserbaidschanischen Truppen kurz vor Stepanakert. Dann wendete sich das Blatt, nicht zuletzt, weil die Jelzin-Regierung in Moskau die damals eindeutig protürkische Regierung in Baku nicht mehr unterstützte.

Mit der Kelbadschar-Offensive wurde ein neues Kapitel in dem Konflikt aufgeschlagen, denn nun begannen die Karabacher, auf unumstritten aserbaidschanisches Territorium vorzudringen. „Heute haben wir einen Sicherheitsgürtel rund um Karabach gelegt. Jetzt sind die Aseris so weit weg, daß sie unsere Dörfer nicht mehr direkt beschießen können“, sagt Maxim Howannisjan zu dieser Taktik. Und die 400.000 Flüchtlinge, die nach den Eroberungen in Aserbaidschan in Lagern leben müssen? „Darauf können wir keine Rücksicht nehmen, wenn wir überleben wollen.“ Die Verletzungen hüben wie drüben sitzen tief. Beide Seiten haben sich auf ihre unversöhnlichen Positionen zurückgezogen. Die eroberten aserischen Städte in und um Karabach bieten denn auch einen traurigen Anblick. Die Häuser zerstört, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Bekanntes Beispiel ist Chodschalu. Der einzige Weg in den Norden von Berg-Karabach führt durch dieses Dorf, einstmals auch eine der wichtigsten aserischen Stellungen. 1991 schossen dort Karabacher die aserische Zivilbevölkerung zusammen.

Die Frontlinie durchschneidet diagonal den nördlichen Bezirk Martakert. Wegen seiner fruchtbaren Landschaft wurde er oft mit der Schweiz verglichen. Die „Straße“ ist allerdings nicht einmal einem schweizerischen Feldweg ähnlich. Wie durch ein Wunder erleidet unser „Niwa“ keinen Achsenbruch in den tiefen Schlaglöchern. Die Fahrt geht vorbei an Orten der Zerstörung, an toten Dörfern und zerfetzten Wäldern. Wenig ziviles Leben regt sich dort zwischen den Ruinen, die Bauern warten mit ihrer Rückkehr auf das Frühjahr.

Unter den Verwundeten in dem Lazarett in Drmbon ist ein aserbaidschanischer Kriegsgefangener. Er liegt allein in einem großen Zelt. Vor vier Tagen habe man ihn gebracht, aus Omar, sagt der Arzt Artzach Bunatjan. Der 18jährige Aseri wirkt erschöpft von seinen schweren Verletzungen. Man behandele ihn gut, sagt er. Nach einer viermonatigen Ausbildung sei er an die Front gekommen, erst nach Fizuli, dann nach Omar. „Omar, das war wirklich hart, Fizuli nicht so, aber Omar, das war schrecklich.“ Auf einer Höhe von 3.200 Metern hätten sie wochenlang gekämpft, nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen extremste Witterungsbedingungen, gegen meterhohen Schnee und unmenschliche Kälte.

Die Versorgung der vielen Kranken sei sehr schwierig, sagt Dr. Bunatjan, ein freundlich dreinblickender Mann mit einem riesigen Schnurrbart, später. „Uns fehlen schon die einfachsten Dinge wie Schmerzmittel oder Verbandszeug.“ Die gleichen Sorgen im Lazarett des Zentralstabs von Martakert in Metzschen. Der Kommandant Manwel, ein bärtiger, schweigsamer Hüne. Er ist einer der „Helden“ dieses Krieges. Sein Vorname ist jedem Karabacher bekannt. Unser Übersetzer weigert sich, Manwel nach seinem Nachnamen zu fragen. Schon die Frage bedeutet offenbar eine Beleidigung.

Die Lazarette sind voll belegt. Meistens liegen zehn bis zwanzig Männer in einem Raum oder Zelt. Ein Holzofen sorgt für brütende Hitze. Einmal beginnen die Kranken spontan, ein Kampflied zu singen. Die Stimmung ist gut, nirgendwo, auch nicht in Stepanakert sind Zweifel zu hören. Dieser Tage erinnert man sich wieder, wie alles anfing, im Frühjahr 1988. „Wir begannen damals mit dem Kampf um unsere Freiheit, und wir glauben auch heute noch an den Sieg. Bei uns verteidigt jeder Soldat sein eigenes Haus, und das ist unsere Stärke“, sagt Manwel selbstbewußt.

Die militärische Überlegenheit dieser kleinen Armee macht viele westliche Beobachter mißtrauisch. Sie widerspricht den Zahlenverhältnissen: 150.000 Karabacher halten sieben Millionen Aseris nicht nur stand, sondern rücken nach und nach auf deren Territorium vor. Spekulationen, ob nicht der „große Bruder“, die Republik Armenien, mithelfe, wollen nicht verstummen. Von außen betrachtet ist es allerdings eher unwahrscheinlich, daß der durch die bald sechsjährige Blockade total geschwächte „Bruder“ überhaupt die Kraft hätte, eine kriegsentscheidende Rolle zu spielen. Das sieht in bezug auf Rußland schon ganz anders aus. Motiv und Möglichkeit sind in Moskau vorhanden.

Seit Frühjahr 1992 hatte die sogenannte „Minsk-Gruppe“ der KSZE versucht, in dem Konflikt zu vermitteln, bisher ohne Erfolg. Auch direkte Gespräche zwischen Baku und Stepanakert, die erstmalig im Juli letzten Jahres stattfanden, haben zu nichts geführt. In der Zwischenzeit hat Rußland seine Bemühungen, einen Waffenstillstand in direkten Verhandlungen zu erwirken, intensiviert. Unermüdlich reiste Jelzins Berater Kazimirow zwischen Baku, Stepanakert und Eriwan hin und her. Die Erfolglosigkeit der KSZE liege darin begründet, so sagte er im Sommer, daß sie keine Mittel zur gewaltsamen Durchsetzung eines Waffenstillstandes habe – und er implizierte, daß Rußland über solche Mittel verfüge.

Die russischen Verhandlungsbemühungen sind keineswegs uneigennützig: Rußland will seinen Einfluß auf Aserbaidschan, ein Land mit reichen Ölvorkommen, zurückgewinnen. Außerdem sollen auch auf aserbaidschanischem Territorium wieder russische Truppen stationiert werden. Der gescheiterte Waffenstillstandsvertrag von Anfang März dieses Jahres besagte genau dies, daß nämlich russische Friedenstruppen in dem besetzten Gebiet rund um Berg-Karabach aufgestellt werden sollten.

„Wir wollen den Aseris zeigen, daß sie mit ihrer Gewaltpolitik nicht weit kommen“, sagt Pressesprecher Maxim Howannisjan nach unserer Rückkehr in die Gebietshauptstadt. Den Aseris zu vertrauen sei den Karabachern nicht möglich, da müßten schon Sicherheitsgarantien her, wie etwa die genannten Friedenstruppen. Zur Zeit ist nicht einmal eine Waffenruhe in Sicht, denn die Aseris bestehen auf einer bedingungslosen Rückgabe aller Territorien, bevor sie den Kampf einstellen.

Im Prinzip sollen alle aserbaidschanischen Gebiete wieder zurückgegeben werden, heißt es in Stepanakert. „Im Falle von Kelbadschar können wir allerdings keine bedingungslose Rückgabe versprechen, höchstens wenn dort eine entmilitarisierte Zone eingerichtet wird“, schränkt Robert Kotscharjan ein. Er ist der Vorsitzende des Verteidigungsrates von Berg-Karabach, der De-facto-Regierung. Aus seiner Haltung spricht Vertrauen in die eigene Stärke, aber auch die Überzeugung, daß man Rußland auf seiner Seite hat.

Ein „militärisch-politischer Staat“ mit „Israel als Vorbild“, so sieht nach Maxim Howannisjan die Zukunft der Minirepublik aus. Und die Staatsbildung hat schon begonnen. Seit September letzten Jahres gibt es ein Außenministerium und eine Visaabteilung. Es bedarf der ausführlichen Beschriftung verschiedener Formulare für jeden Fremden. Zehn Dollar kostet das bunte, briefmarkenähnliche Visum, das dem Besucher daraufhin mit großer Sorgfalt in den Paß geheftet wird. Der Krieg und das Sterben gehen weiter, auch wenn Stepanakert heute friedlich erscheint. Die Ausnahme, der Kriegszustand, ist zur Normalität geworden.