■ Interview mit Samuel Ruiz, Bischof von San Cristóbal de las Casas, zu den Chancen des Friedensprozesses in Chiapas
: „Es geht nicht nur um Mitleid!“

taz: Nach dem Attentat auf PRI-Kandidat Colosio scheint es so etwas wie einen nationalen Anti-Gewalt-Konsens zu geben. Dabei wird von einigen, wie zum Beispiel dem Schriftsteller Octavio Paz, versucht, den Chiapas-Aufstand mit dem Mord in Tijuana in Verbindung zu bringen.

Samuel Ruiz: Bis jetzt sehe ich dafür keinerlei Hinweis. Und der allgemeinen Ablehnung gegenüber der Gewalt kann ich mich nur anschließen.

Der Friedensprozeß ist dadurch aber erst mal unterbrochen ...

Schon vor dem Attentat hat es Truppenbewegungen gegeben, die die Zapatistische Armee als Vorbereitung einer künftigen Offensive interpretiert hat. Das ist mittlerweile sowohl vom Militär als auch von der Regierung – Manuel Camacho Solis hat das mir gegenüber versichert – geklärt worden; beide Seiten haben erneut ihre Bereitschaft ausgedrückt, eine politische und nicht eine militärische Lösung zu finden.

Sehen Sie den Prozeß als gefährdet an?

Als Christ bin ich immer voller Hoffnung.

Ist die Chiapas-Revolte eine Art Fanal für das übrige Mexiko?

Natürlich. Wenn wir von Gerechtigkeit für die Indianer sprechen, bezieht sich das nicht nur auf diese Ecke von Mexiko, sondern im ganzen Südosten und überall in der Republik machen sie sich jetzt bemerkbar und sagen, daß sie genau dieselben Probleme haben, auch wenn sie nicht denselben Weg einschlagen oder akzeptieren. Außerdem betrifft ja auch die Forderung nach sauberen und glaubwürdigen Wahlen nicht nur Chiapas, sondern das ganze Land.

Noch eine christliche Hoffnung?

Ich bin nicht optimistisch in dem Sinne, daß ich an Luftschlösser glaube, sondern ich habe Gründe, auf denen meine Hoffnung beruht: Es gibt die Mobilisierung der Bevölkerung des Landes – und das ist eine ungeheure historische Verantwortung – und es gibt eine Modifizierung der offiziellen Positionen, nicht nur theoretisch, sondern auch sehr konkret, wie wir sie bisher in der Geschichte nicht gesehen haben. Der Prozeß ist längst in Gang. Ob sich das ohne den Aufstand ergeben hätte? Ich weiß es nicht. Wichtig ist, daß es so gekommen ist. Auf die Frage eines Senators, der an einem Dialog mit 140 Indianergruppen teilgenommen hatte, warum sie denn nicht zu anderen, legalen Mitteln gegriffen hätten, antworteten sie: Wir sind nicht einverstanden mit dem, was die Zapatistenarmee gemacht hat. Aber ihr Leiden ist auch unser Leiden. Und du, Herr Senator, würdest hier gar nicht mit uns reden, wenn es dort nicht so viele Tote gegeben hätte. Wie traurig, daß das nötig gewesen ist, damit du endlich hier bei uns bist. Vielleicht hätte auch eine friedliche Erhebung ähnliche Wirkung gehabt. Aber die Situation wurde immer drängender, als das Nafta-Abkommen kurz vor dem Start stand. Dabei wurde ein Trauma angerührt, das Trauma eines Mexiko, das eher „befriedet“ als wirklich so friedlich ist, wie immer behauptet wurde.

Wie sehen Sie denn die Bereitschaft der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN), die Kriegslogik hinter sich zu lassen?

Ich glaube, daß sie weiterhin einer Friedenslogik folgen. Sie interpretieren gewisse Bewegungen der Gegenseite als gefährlich für ihre eigene Sicherheit. Aber sie haben explizit gesagt, daß sie weiter zum Dialog bereit sind, daß sie mit dem Studium der Vereinbarungen in ihren Dörfern fortfahren werden, sobald ein Minimum an psychologischer Ruhe für sie wiederhergestellt ist. Auf keinen Fall wollen sie den Waffenstillstand brechen – das alles ist also gerade keine Kriegslogik.

Wäre denn der Aufstand möglich gewesen ohne Ihre Arbeit?

Das läßt sich schwer beantworten. Ich glaube, überall, wo dieselben Bedingungen wie hier herrschen, hätte das passieren können. Der Hunger, die Verzweiflung reichen ja schon zur Erklärung aus. Da braucht man niemanden, der von außen kommt, und auch keine Theorie, um den Hunger, die Verachtung und die Repression zu erklären. Zu glauben, daß das von irgendeiner Ideologie kommt, heißt, das Problem völlig aus seinem Kontext zu reißen.

Für wie gefährlich halten Sie zur Zeit die sogenannten authentischen „coletos“ (Selbstdefinition der Mestizen als führender „Ethnie“ Mexikos, d.R.), die so lautstark gegen „diese Indios“, aber auch gegen Sie selbst mobilisieren?

Ich sehe da keine Gefahr. Das ist doch wie bei einem Fußballspiel: Wenn du sieht, daß deine Mannschaft am Verlieren ist, dann wirst du traurig und schreist so Sachen wie: Mach ihn kalt, aber du meinst nicht wirklich, was du da sagst ... Es ist ein Grüppchen von Leuten, die gebrüllt haben. Na und? Es ist klar, daß eine Veränderung für sie sehr schwierig sein wird. Aber nicht sie sind es, die die Geschichte bestimmen. Die authentischen coletos sind schließlich wir. Sie scheinen mit Ihren Fragen ja unbedingt darauf hinauszuwollen, daß der Frieden nicht möglich ist. Aber ich sage Ihnen: der Frieden ist möglich! Die Pessimisten sind es oft, die gar nicht wollen, daß eine Situation sich ändert. Natürlich ist es ein Frieden, der nicht nur aus der Abwesenheit von Krieg entsteht. Er setzt voraus, daß Gerechtigkeit geschaffen wird.

Dieser Frieden soll, den Vereinbarungen zufolge, vor allem auch das friedliche Zusammenleben der Ethnien bedeuten.

Mehr noch als die Forderungen nach mehr Schulen, mehr Krankenhäusern und mehr Land verlangen sie vor allem ein Mehr an Würde, mehr Respekt. Gefordert wird eine juristische Basis für eine veränderte Beziehung zwischen den Ethnien und dem Staat. Aber natürlich bedeutet eine Veränderung des Gesetzes nicht automatisch eine Veränderung des Herzens. Und das ist ein langer und schwieriger Prozeß für unsere Stadt und für diesen Teil des Landes, der bis jetzt an eine asymmetrische Beziehung gewöhnt war.

Ist es nach 500 Jahren Asymmetrie denn noch möglich, diese so verschiedenen Welten miteinander zu versöhnen?

Dieselbe Frage kann man zur Beziehung zwischen Erster und Dritter Welt stellen. Hältst du es denn für möglich, daß die Erste Welt die Dritte einmal als gleichwertig in der Beziehung ansehen wird? Ich denke schon. Die Würde ist schließlich kein Privileg, das erst von dem anderen akzeptiert werden muß, sondern sie existiert einfach. Es ist das Fundament: Du, die du deutsch sprichst, bist genauso ein Mensch wie ich, der ich spanisch spreche, oder ein Indianer, der nicht spanisch, sondern seine eigene Sprache spricht. Es ist dieselbe Menschenwürde. Wir alle müssen das lernen, denn in gewisser Weise sind wir alle noch Rassisten.

Sie eingeschlossen?

Ob ich will oder nicht, habe ich einen sozialen Status, der mich von anderen trennt. Auch wenn ich sage, ich bin gleich, gibt es doch eine grundlegende Ungleichheit, die ich bekämpfen muß. Und manchmal akzeptiere ich sie kritiklos, ohne es überhaupt zu merken. Ein Beispiel: Es kommt ein indianischer Mensch zu mir und wartet auf mich. Danach kommt ein Weißer und will mich auch sprechen. Und ich bitte den einen herein und sage zum anderen, daß er warten soll. Mit welchem Recht denke ich, daß die Zeit eines Campesino weniger wertvoll ist als die eines Unternehmers?

In der Kirche ist es dieselbe Situation: Ein Bischof aus der Dritten Welt – auch wenn er etwas Interessanteres als ein Bischof aus der Ersten Welt zu sagen hat – ist weniger wert, gilt als unterentwickelt.

Diese internationale Asymmetrie reicht ja auch bis Chiapas hinein. Was müßte sich da ändern?

In diesem Moment scheint das Wirtschaftssystem ja unbarmherziger denn je. Der Papst hat in Yucatán eine sehr kurze, aber deutliche Analyse dieses wüsten Systems vorgestellt, und vor allem dessen Folgen für die Indianer. Das Wichtigste ist die Veränderung dieses Systems, das im Moment vor allem am Gewinn orientiert ist, hin zur Orientierung am Menschen, am Lebensrecht des Menschen.

Das christliche Mitleid allein reicht also nicht aus?

Ich spreche nicht von Mitleid, ich spreche von Transformation. Es geht um eine strukturelle Veränderung. Und natürlich bedeutet eine strukturelle Veränderung immer auch eine Veränderung der Haltungen der Menschen, da die sozialen Strukturen ja ein Resultat der individuellen Aktionen sind.

In Ländern wie Deutschland hieße das zum Beispiel, bereit zu sein, mehr für den Kaffee zu bezahlen?

Es geht nicht um Geld, es geht um Gerechtigkeit. Den gerechten Preis zahlen und nicht einfach „mehr“ bezahlen.

Das Unrecht hier scheint so tief verwurzelt zu sein, daß es für jemanden, der nur zu Besuch bei Ihnen ist, schwer fällt, Ihren Optimismus zu verstehen ...

Und vielleicht ist das für mich sogar noch schwieriger als für Sie, denn in Deutschland gibt es schließlich auch Gründe für das Unrecht hier. Die Kaffeepreise werden schließlich nicht in Mexiko festgelegt. Und an der Küste von Tapachula gibt es deutsche Kaffeepflanzer, und nicht immer wurde dort ein gerechter Lohn gezahlt. Interview: Anne Huffschmid