Rußland: Bürgerfrieden statt Bürgerkrieg?

■ Boris Jelzin will Parteien verpflichten, die politische Stabilität nicht zu gefährden

Moskau (taz) – Auf der Suche nach Übereinkunft zwischen den verfeindeten Kräften der russischen Gesellschaft hat der Kreml das seit langem angekündigte Kompromißpapier vorgelegt, den „Pakt für einen Bürgerfrieden“. Die hadernden Parteien sollen sich darin zunächst für die Dauer von zwei Jahren verpflichten, friedfertig und gewaltlos ihre Konflikte auszutragen. Verfassungsänderungen und vorgezogene Neuwahlen werden für diesen Zeitraum ausgeschlossen. Die Subjekte der Russischen Föderation, selbständige Republiken und Gebiete, müssen auf Schritte verzichten, die ihren verfassungsrechtlichen Status verschöben. Gewerkschaften, die in den letzten Wochen mehrfach mit Streik gedroht hatten, werden aufgefordert, in ihrem Interessenkampf keine politischen Forderungen zu stellen.

Der umfangreiche Katalog benennt eine ganze Reihe heißer Eisen und dokumentiert die Bemühungen, keine relevante gesellschaftliche Gruppe und ihre Sorgen unter den Tisch fallen zu lassen. Der Grad der Inflationsentwicklung soll ebenso prognostizier- und kontrollierbar gehalten werden wie man bis zum Jahresende bestrebt sein will, den weiteren Niedergang der Industrieproduktion aufzuhalten. Neben der kostenlosen Schulausbildung schreibt der Pakt auch angemessene Hilfe für die Entwicklung des Wissenschafts- und Forschungssektors fest.

Unternehmer und Produzenten, zwischen privat und staatlich wird nicht getrennt, möchte der Kompromißversuch dazu bewegen, keine ungerechtfertigten Stillegungen und Schließungen von Fabriken vorzunehmen. Sie werden ermahnt, staatliche Gelder und Kredite nicht zweckentfremdet einzusetzen.

Gute Absichten lassen sich der Initiative nicht absprechen, aber gerade deshalb liest sich der Pakt wie eine „Anleitung zum Wohlverhalten“. Selbstverständlich dürfen die Unterzeichner die Revolten in Rußlands jüngster Geschichte nicht in der politischen Auseinandersetzung nutzen. Eine Schlichtungskommission soll die Einhaltung des Abkommens überwachen. Ihr gehören neben Vertretern der verschiedensten legislativen und exekutiven Gremien auch Persönlichkeiten aus der Kultur und dem öffentlichen Leben an.

Der Pakt kommt quasi einem Moratorium gesellschaftlicher Konflikte gleich. Schon daher ist zu erwarten, daß sich die bisher unversöhnliche Opposition nicht auf ihn einläßt. Der amnestierte ehemalige Vizepräsident Alexander Ruzkoj lehnte den Vorstoß bereits als gegenstandslos ab. Faschist Schirinowski wies auf dem Parteitag der „Liberaldemokraten“ am vergangenen Wochenende ebenfalls jedes Ansinnen auf Ausgleich zurück. Den rechten neoimperialistischen Rand kann Präsident Jelzin mit seiner Initiative nicht befrieden. Auch kursierten Gerüchte, das Parlament wolle sich überhaupt nicht mit dem Pakt befassen. Die Kommunisten äußerten sich auch eher ablehnend. Der Parlamentsvorsitzende Iwan Rybkin, der aus den Reihen der konservativen Fraktion der Agrarier stammt, signalisierte dagegen seine Bereitschaft. Es hängt nicht unwesentlich von ihm ab, ob dem Vorstoß Jelzins Erfolg beschieden sein wird. Bisher suchten die Agrarier die Nähe ihrer kommunistischen Glaubensbrüder. Doch auch wenn der Pakt zustandekommen sollte, hat er nicht mehr als symbolische Bedeutung. Ein Ende des Machtkampfs, bei dem es um zwei einander entgegengesetzte Gesellschaftsentwürfe geht, ist nicht zu erwarten. Klaus-Helge Donath