„Wir lösen Probleme auf unsere Art“

■ Jericho ist auf die Teilautonomie schlecht vorbereitet

Jericho (taz) – Vor knapp zwei Wochen wurde in Jericho ein Mädchen von drei Palästinensern vergewaltigt. Eine Anzeige an die israelischen Sicherheitsbehörden unterblieb, die Presse erfuhr nichts. Statt dessen beriet ein Rat von palästinensischen Männern über die Tat, darunter zwei Mitglieder der örtlichen Fatah, der Partei Arafats. Das Ergebnis: Das Mädchen muß den Mann heiraten, der sie zuerst vergewaltigt hat. Sie wurde nicht gefragt. Dem Täter droht keine Strafe. Knapp zwei Tage nach der Vergewaltigung war die Frau mit dem Täter verehelicht.

Oder: Vor wenigen Tagen erwischten Mitglieder der Jerichoer Fatah drei Palästinenser aus dem Ort Bet Sahur mit einer Israelin. Die Männer sind seitdem in der Gewalt der Fatah, wo, ist unbekannt. Sie werden nach dem Gutdünken der Fatah behandelt. Genaueres erfährt man nicht, auch nicht, was die Männer eigentlich verbrochen haben sollen.

Beide Geschichten erzählt der Ortschef der Jerichoer Fatah, Abdel Karim Sidr, um zu demonstrieren, daß man in der Lage sei, die Stadt zumindest vorübergehend zu lenken, wenn die Israelis abgezogen sind. Er erzählt es, als wäre es die normalste Sache der Welt, so mit Ereignissen umzugehen, die eigentlich ein Gericht und ein Rechtssystem erfordern. Aber Rechtsfragen sind Hoheitsfragen, und die wurden von Israel gegen den Willen der palästinensischen Unterhändler bislang konsequent aus allen Verhandlungen ausgespart. Der Abzug des israelischen Militärs aus dem bislang nicht einmal genau definierten „Autonomiegebiet von Jericho“ hat begonnen. Die Soldaten packen Kisten und transportieren sie aus der Stadt. Alles deutet darauf hin, daß ihre Zeit nun vorüber ist. Am südlichen Stadtrand, wo die Grenze des Jerichoer Gebiets im Gegensatz zum Norden bereits festliegt, planieren Bagger das Areal für eine Art Grenzstation zwischen Jericho und der übrigen Westbank.

Aus einer langen Geschichte der Verzögerung könnte nun eine Geschichte der Übereilung werden. Bislang gab es zu berichten von Soldaten, die nicht abzogen, und von palästinensischen Polizisten, die nicht kamen. Davon, daß sich nichts ändert und daß die Stimmung in den besetzten Gebieten sich mehr und mehr verschlechtert. Man sprach über den rapiden Popularitätsverlust von PLO-Chef Arafat, der wieder zum „Superstar“ wird, „wenn die Israelis erst weg sind“, wie Abdel Karim Sidr meint.

Jetzt ist ein Aktivismus eingetreten, der die Stadt bald ohne jegliche Autoritäten dastehen lassen könnte. Jericho verfügt über nichts, was für die Regierung einer Stadt vonnöten ist. Der Bürgermeister wurde nicht gewählt, sondern von den Israelis eingesetzt. Der Strom kommt aus Israel, ebenso das Wasser und die Telefonanschlüsse. Vor allem aber: Es gibt kein Rechtssystem. Über das Militärrecht der israelischen Besatzer muß man keine Worte verlieren, es besteht aus über tausend rigiden, willkürlichen Militärverordnungen, Militärrecht eben. Jordanisches Recht existiert zwar, seine Anwendung wurde aber von den israelischen Besatzern weitgehend unmöglich gemacht. Die antiquierte Rechtsprechung durch einen Ältestenrat hat keine wirkliche Akzeptanz mehr, auch wenn sie immer wieder exerziert wird, wie bei dem vergewaltigten Mädchen. Es existiert kein Recht, nach dem die erwartete palästinensische Polizei agieren könnte; es gibt keine Gerichte, die Vergewaltigung, Mord, Diebstahl oder Körperverletzung ahnden könnten. Ebensowenig eine Verwaltung, die sich um die Belange der Bürger kümmerte. Diese Institutionen zerbrachen unter der Besatzung.

Auf palästinensischer Seite gibt es nur die Parteien, die schon jetzt um die künftige Vorherrschaft in der Stadt streiten. Vor allem Arafats Fatah und die Demokratische Palästinensische Union FIDA, die sich vor rund 18 Monaten um Jassir Abed Rabo, den PLO-Sprecher in Tunis, gegründet hat. Islamische Parteien, wie Hamas und Jihad, haben in Jericho, das während der Intifada zu den ruhigsten Orten gehörte, kaum etwas zu sagen.

„Die Israelis haben sich nie um unsere Belange gekümmert“, sagt Fatah-Mann Sidr, „und schon früher haben wir die Dinge auf unsere Art gelöst.“ Während der Jahrzehnte der Besatzung seien Untergrund-Strukturen entstanden, die jetzt jederzeit genutzt werden könnten. „Binnen Minuten kann ich 50 Polizisten auf die Beine stellen, innerhalb von einer Stunde weitere 80.“ Der konkurrierende FIDA-Chef Adnan Hamad lächelt skeptisch, wenn er über die Geflogenheiten der Fatah spricht. „Sicherlich lösen sie die Sachen auf ihre Art“, sagt er, „mit rechtmäßigen Verfahren hat das aber nichts zu tun.“ Eines der wichtigsten Ziele der FIDA ist es, jetzt schnellstens Wahlen abzuhalten und einen eigenen Bürgermeister zu wählen. „So könnte man zumindest ein Minimum an Legalität in die Stadtverwaltung bringen.“ Julia Albrecht