Blut, Schweiß und Tränen für die Türkei

■ Ministerpräsidentin Çiller kündigt hartes Sparprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen an / Inflation nähert sich lateinamerikanischen Verhältnissen

Berlin/Ankara (taz/AFP/wps) Die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller hat am Dienstag nachmittag ein Sparpaket zur Sanierung der Wirtschaft angekündigt. Bekämpft werden soll vor allem die zunehmende Inflation durch eine drastische Verringerung der Staatsschulden. Die öffentliche Hand sei gegenwärtig mit umgerechnet 2,5 Milliarden Mark verschuldet, sagte Çiller. Diese Zahl solle bis Ende 1994 auf umgerechnet eine halbe Milliarde Mark gedrückt werden. Die Steuereinnahmen haben laut Çiller 1993 nicht einmal mehr für Zins und Tilgung der Altschulden ausgereicht. Das Staatsdefizit betrage inzwischen 16,3 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.

Das Sparpaket gliedert sich nach den Worten der Ministerpräsidentin in zwei Teile. Das „Stabilisierungsprogramm“ sieht einen Lohn- und Gehaltsstopp beim öffentlichen Dienst, massive Preiserhöhungen im kommenden Halbjahr sowie bestimmte Steuererhöhungen vor. Das „Restrukturierungsprogramm“ besteht aus der beschleunigten Privatisierung staatlicher Unternehmen, dem Verkauf oder der Vermietung von Staatsimmobilien und der Schließung oder Reorganisation defizitärer Staatsbetriebe. Außerdem wurde die Türkische Lira um 39 Prozent gegenüber US-Dollar und D-Mark abgewertet.

„Wenn wir nichts unternehmen, werden wir bald Hyperinflation und Stagnation erleben, wie es sie in einigen Ländern Lateinamerikas gegeben hat“, sagte Çiller in einer live übertragenen Fernsehansprache. Die Luftfahrtgesellschaft Turkish Airlines soll noch in diesem Jahr, die staatlichen Elektrizitätswerke (TEK) und die Post- und Telefongesellschaft sollen 1995 privatisiert werden.

Auf der Privatisierungsliste stehen ferner die Stahlwerke von Karabuk und die Kohlegruben von Zonguldak am Schwarzen Meer. Sie sollen geschlossen werden, falls sie keinen Abnehmer finden. Bereits gestern traten die ersten Preiserhöhungen in Kraft. Am Dienstag hieß es, Erdölprodukte würden um 46 bis 90 Prozent teurer, die Preise für Tabakwaren und Spirituosen, darunter auch der Raki, würden um 77 bis zu 100 Prozent und der Zuckerpreis werde um 50 bis 60 Prozent angehoben.

Der Preis für Flugtickets steigt um etwa 50 Prozent. Der Flug von Ankara nach Istanbul mit Turkish Airlines, der bislang eine Million türkische Pfund (etwa 57 Mark) kostete, wird künftig 1,5 Millionen Pfund (85 Mark) kosten, das heißt soviel wie das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen.

Nach Angaben des türkischen Statistikamtes betrug die Inflationsrate im vergangenen Jahr (April 1993 bis März 1994) 73,6 Prozent. Vor Bekanntgabe von Çillers Sparpaket wurde die diesjährige Teuerungsrate von Fachleuten auf über 100 Prozent veranschlagt. Seit Beginn des Jahres hat die nationale Währung gegenüber dem US-Dollar 120 Prozent ihres Wertes verloren.

Die türkische Zentralbank soll gegenüber der Regierung unabhängiger werden, um eine härtere Geldpolitik durchsetzen zu können. Gleichzeitig verlautete aus der Zentralbank, daß sie künftig den Kurs der Lira nicht mehr stützen werde. Die Lira sackte daraufhin auf 18.978 Lira für eine Mark von 13.260 Lira am Vortag ab.

In der Wirtschaft wurde das Sparprogramm der einstigen Ökonomieprofessorin überwiegend lobend aufgenommen. Auch der ansonsten Çiller-kritische Kommentator der Zeitung Hürriyet, Rauf Tamer, schrieb, daß es keinen anderen Weg gebe. Manche Ökonomen äußerten allerdings Zweifel daran, daß die Regierung das Programm tatsächlich wird durchsetzen können, wenn nicht auch die wichtigste Oppositionspartei, die Mutterlandspartei, es duldet. Deren Chef Mesut Yilmaz jedoch kritisierte das Programm als „schlechte Kopie“ früherer Initiativen, die an massiven Protesten der im Staatssektor Beschäftigten gescheitert waren.

Nach der Ankündigung des Programms kam es zu ersten Protestkundgebungen in den verlustreichen und von Schließung bedrohten staatlichen Stahl-, Werft- und Brauereibetrieben Istanbuls.