Indien setzt auf Wachstum

Steuer- und Zollsenkungen sowie Bildung  ■ Aus Delhi Bernhard Imhasly

In den asiatischen Märkten ist „Musik“, behauptet Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt, der mit 20 hochrangigen Wirtschaftsbossen im Schlepptau zur Zeit in Indien unterwegs ist. Mit blumigen Worten versucht der FDP-Mann, die bisher schlappen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands mit dem östlichen Kontinent anzuregen. Indien ist in der Region einer der wichtigsten Handelspartner: In den ersten neun Monaten des letzten Jahres kamen Waren für 2,7 Milliarden Mark von dort nach Deutschland, der Handel in umgekehrte Richtung betrug 2,7 Milliarden Mark. Die deutschen Investitionen haben sich in den letzten Jahren verzehnfacht.

Rexrodt will bei seiner Visite auch den indischen Finanzminister Manmohan Singh treffen. Der ist, im Gegensatz zu ihm, ein in der Wirtschaftspolitik ausgesprochen entscheidungsfreudiger und durchsetzungsfähiger Mann. Erst vor kurzem hat er den Staatshaushalt für 1994/95 vorgelegt. Defizitabbau und Wachstumsförderung stehen im Vordergrund.

Die Wirtschaft Indiens hat sich in den letzten Jahren deutlich erholt, aber das Defizit ist wegen politischer Zwischenfälle und mangelnder Nachfrage rasch angeschwollen. So lassen sich die Erfolge der Wirtschaftsstabilisierung auch vor allem im Außenbereich zeigen: Gegenüber 1991 haben sich die Devisenreserven von 1 auf 13 Milliarden Dollar erhöht. So kann die Regierung jetzt sogar 1,4 Milliarden Dollar ein Jahr früher als verabredet an den IWF zurückzahlen. Sollten die Exporte noch einmal um etwa 21 Prozent wachsen, wie im letzten Jahr, zeichnet sich ein Handelsbilanzüberschuß ab.

Haushaltsdefizit zur Rezessionsüberwindung

Die Bilanz der Binnenwirtschaft ist weniger beeindruckend. Zwar konnte die Inflation auf 8,3 Prozent halbiert werden, und die Landwirtschaft produzierte eine Nahrungsmittelreserve von 23 Millionen Tonnen Getreide; aber das war vor allem sechs guten Monsunjahren zu verdanken. Das Gesamtwachstum betrug lediglich vier Prozent. Besonders die Industrie hatte Schwierigkeiten, gleichzeitig mit der Rezession und der auf den indischen Markt drängenden internationalen Konkurrenz fertig zu werden. Die Regierung stand vor einem Dilemma: Entweder konnte sie das Budgetdefizit vermindern und dadurch die Rezession vertiefen oder mehr Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln, und dadurch eine hohe Inflation riskieren. Sie wählte den zweiten Weg. Die Folge: In der Staatskasse klafft ein Loch von 580 Milliarden Rupien (etwa 30 Mrd. Mark) Finanzminister Singh aber glaubt, daß sich das Risiko gelohnt hat: die Industrie beginnt sich zu erholen. Und die Inflation konnte immerhin unter zehn Prozent gehalten werden. In der Bilanz des abgelaufenen Finanzjahrs ist denn auch das Defizit, das mit 7,3 Prozent des Bruttosozialprodukts weit über der vom IWF geforderten Marke von 4,7 Prozent liegt, der schwärzeste Punkt. Verursacht wurde es durch einen Rückgang der indirekten Steuern und vor allem durch eine Zunahme der Subventionen und Infrastrukturhilfen des Staates – ein Zugeständnis auch an die politischen Zwänge durch die religiösen Unruhen des letzten Jahres.

Mehr Einnahmen durch niedrigere Steuern

Der neue Haushaltsvorschlag räumt der finanziellen Disziplin – neben einer kontinuierlichen Weiterführung der Reformen – erste Priorität ein. Der Regierung soll per Gesetz ab 1997 verboten werden, ihre Defizite durch Schaffung kurzfristiger Regierungspapiere zu decken. Außerdem sollen die Steuern gesenkt und ihre Erhebung vereinfacht werden, um durch einen so angeregten Wirtschaftsboom die Kasse letztlich mehr füllen zu können. Singh kündigte außerdem an, daß der Staat bei der Armutsbekämpfung und Erziehung wieder eine stärkere Rolle spielen wolle.

Auch im Finanzsektor kündigte der indische Minister neue Verordnungen an; vor allem der Börsenhandel soll transparenter werden. In den notleidenden staatlichen Bankensektor will die Regierung auch dieses Jahr massiv Geld pumpen, und mit der Einführung von Schiedsgerichten soll den Banken die Eintreibung von Schulden erleichtert werden.

Singhs Prognose für dieses Haushaltsjahr: Bei Einnahmen von 1.450 Milliarden Rupien (etwa 75 Mrd. Mark) wird es ein Defizit von 60 Milliarden Rupien geben. Auf der Ausgabenseite bilden die Zinszahlungen mit 460 Milliarden Rupien weiterhin den größten Posten; sie verschlingen inzwischen über 50 Prozent aller Steuereinnahmen. Trotzdem ist das Land bereit, für Rüstung und Militär weiter 230 Milliarden Rupien bereitzustellen – 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Dahinter steht weiter der Konflikt mit Pakistan über Kaschmir. Die Ausgaben für Gesundheit und Bildung und ländliche Entwicklung werden, obwohl sie prozentual das stärkste Wachstum verzeichnen, von den massiven Investitionen in die Infrastruktursektoren Energie, Transport, Grundstoffindustrien und Telefon in den Schatten gestellt.

Zölle wurden abermals gesenkt

Bei den Zöllen ging Singh den bisher eingeschlagenen Weg weiter: Zum vierten Mal hintereinander senkte die indische Regierung den obersten Steuersatz. Aber nicht für alle Waren gilt der Spitzenwert von 65 Prozent. Allgemeine Investitionsgüter und Projektimporte werden nur noch höchstens zu 25 Prozent besteuert. Auch bei Werkzeugmaschinen, Stählen, Nichteisenmetallen und Pharmarohstoffen wird neuerdings an der Grenze weniger abkassiert als bisher. Bestimmte Industriezweige – wie Uhren, Elektronik, Leder – kommen ebenfalls in den Genuß reduzierter Tarife für kritische Inputs. Für eine Reihe von Importen werden allerdings auch neue Ausgleichszölle erhoben; hier hat sich die einheimische Industrie durchgesetzt, deren Produkte wegen der lokalen Verbrauchssteuern oft höher belastet sind als importierte Güter. Aber auch diese Abgaben sollen reorganisiert und schließlich gesenkt werden.

Auch die Senkung der minimalen Zinssätze um ein auf 14 Prozent und die Reduzierung der Körperschaftssteuer wurden mit der Absicht beschlossen, der indischen Wirtschaft einen Wachstumsimpuls zu geben. Und da der Finanzminister zu guter Letzt auch noch die persönlichen Einkommenssteuern um rund zehn Prozent senkte, schuf er auch auf der Nachfrageseite eine günstige Ausgangsbasis für ein Gesamtwachstum. Optimisten rechnen damit, das die Wirtschaft Indiens in diesem Jahr um sechs bis sieben Prozent zulegt.