„Total altersgerecht entwickelt“

■ Die unsichtbare Kluft zwischen Eltern und Kinderlosen - auf einem Samstagnachmittagsausflug entdeckt von Paula Roosen

Es gibt zahllose Kulturkreise auf der Welt. Doch nirgendwo ist die Kluft so tief wie zwischen Eltern und kinderlosen Menschen. Nehmen wir eine hundsgewöhnliche Samstagnachmittagverabredung. Geplant ist ein unspektakulärer Spaziergang durch einen Jugendstilstadtteil mit anschließendem Cafébesuch. Das Ziel: die letzte bezahlbare, geräumige und freie Altstadtwohnung zu entdecken, bevor sie in der Zeitung steht. Die kinderlosen Menschen rücken pünktlich an, will sagen, sie parken ihr rotes Cabrio sorgfältig vor der Haustür ein. Beide sind nicht nur sympathisch, sie sehen auch so aus. Pullover- und Augenfarbe Ton in Ton. Ihre gutsitzenden Bekleidungsstücke haben sie auf dem letzten Rom-Trip erworben. Schmunzelnd betrachten sie unsere Ausgehvorbereitungen.

Nach nur einer Viertelstunde türmen sich auf der Ladefläche unseres ergrauten Kombis eine angerostete Kinderkarre, ein Lammfell, ein Regencape, Mützen, Handschuhe und eine Provianttasche mit dem Allernötigsten für das liebe Fritzi. Daß sich bei unserem Auto das Verdeck nicht herunterklappen läßt, fällt bei dem einsetzenden Nieselregen weniger auf. Es hat ohnehin mehr die Form eines Fährschiffes, so daß alle bequem darin Platz finden.

Fritzi, der Erstgeborene, mittlerweile 18 Monate alt, thront unaufhörlich zappelnd in seinem Kindersitz. Die Fahrt durch die Vorstadt dauert nicht lange, und die Freundin hat sich mit einem aufmunternden „na, mein Kleiner“ neben ihn gesetzt. In einer Mischung aus fließendem Hocharabisch und Dänisch fragt Fritzi die verdutzte Frau, was sie denn am Ohr habe. Es hört sich ungefähr an wie „rolechole?“ Zum Glück sind bei Zwergen die Arme so kurz, daß sie nicht immer an klunkernde, fremde Ohrringe heranreichen. Zum Ausgleich versucht Fritzi, die Freundin in die Hand zu beißen. „Total altersgerecht entwickelt“, konstatiert der Freund und zündet sich auf dem Beifahrersitz eine Zigarette an.

Um es vorwegzunehmen: Den grünen Stadtteil mit den schönen Jugendstilunterkünften findet Fritzi nicht so aufregend. Nunmehr in der Karre sitzend, hat er aus den Augenwinkeln die Lage erfaßt. Nicht einen einzigen blöden Hund haben sie bei dem Sauwetter vor die Tür gejagt. Aber ihn. Ohne den Frischluftfimmel der Elternlehrlinge könnte er jetzt in aller Ruhe die Teebeutel zu Ende sortieren, die er mittags erfolgreich aus der Küchenschublade gezerrt hat. Unterdessen wundern sich die Freunde darüber, daß der kleine Bursche weder lauthals tiriliert noch sonst die Ausfahrt zu genießen scheint.

Wir stellen uns im Halbkreis vor einer Villa mit Garten auf und spielen verschiedene Varianten des Herausekelns der Bewohner durch. Ein fingiertes Gutachten über eine geplante, nahegelegene Giftmülldeponie wird einstimmig als vermeintlich wirkungsvollste Methode ins Auge gefaßt. Der Freund bietet an, sich später um den Weinkeller zu kümmern. Die Freundin will ihre Computeranlage mit Fax und Drucker allen zugänglich machen - außer Fritzi. Uns wird spontan die Sandkiste hinter dem Kellereingang zugeteilt. Fritzi wirft seine Mütze unbemerkt in den Randstein und zieht die Augenbrauen noch tiefer herunter.

Weil langsam alle durchnäßt sind, entern die Spaziergänger ein nahegelegenes Szenegasthaus und bestellen vier dampfende Milchcafes. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, läßt Fritzi seinen Schnuller besitzergreifend in die ihm am nächsten stehende Tasse plumpsen. Die ihm angebotenen Vollkornkekse schlägt er kategorisch aus und verweist mit einem entschlossenen „da“ auf die Kuchenauslagen in der Vitrine. Die Elternlehrlinge steigen sofort in den Ring und verteidigen ihre hochheiligen Werte wie etwa die zuckerfreie Ernährung. Die kinderlosen Freunde versuchen, sich bei dem Stichwort „Prinzipienreiterei“ in die Diskussion einzuklinken. Am Ende des Nachmittags hat Fritzi immer noch Hunger und das gemeinsame Wohnprojekt wird erstmal auf Eis gelegt.