Ein märchenhafter Hinterhof

■ Hektisches Hinterhofgeknatter: Großstadtlyrik des Kölner Poeten Norbert Hummelt in der Edition Galrev

Leberecht am schiefen Fenster war ein Kauz aus einem meiner Bilderbücher, der, wenn ich nicht irre, mit einer dicken Frau verheiratet war, der den lieben langen Tag auf die Straße seines Dorfes guckte und dessen Existenz ich nie zu schätzen wußte. Ich fand ihn langweilig, aber seit mir erzählt worden ist, einer könne Poet sein, ohne eine Zeile geschrieben zu haben, wenn er nur recht poetisch lebt, glaube ich, daß Leberecht mit seinem Fenster ein Dichter war und deshalb gewürdigt werden muß.

Was ich hiermit tue, denn daß exzessives Gucken und so ein Fenster Grundlage einer poetischen Existenz sein können, läßt sich mit Norbert Hummelts Gedichten beweisen, von denen hier die Rede sein soll. Dessen Fenster gehören zu Häusern in Köln, wo Hummelt seit 1984 lebt, den trockenen Daten nach allerdings eher prosaisch – als freier Autor, Übersetzer, Kritiker und Publizist, beteiligt an Literaturprojekten wie der „Autorenwerkstatt“ (u.a. gemeinsam mit Marcel Beyer); mit anderen Worten: im Kulturbetrieb.

„Knackige Codes“ heißt Hummelts jüngstes Buch; es läßt sich wie ein Film lesen, für den die Texte einerseits Bilder und Bewegung und andererseits die Geräuschkulisse liefern, und hinreißend zwiespältige Monologe auch. Vorspann: Wie eine Ouvertüre steht den vier Kapiteln des Buches das Titelgedicht voran, dessen Text vorwegnimmt, was danach abrollt. Da beschwört Hummelt mitten aus dem Geratter der Großstadt („Message kommt & message geht“) die antiquierte Vorstellung von einem Zauberort herauf.

Eine Idylle am „hinterfenster, wo/ stimme des schwarzen vogels vernehmbar,/ der hockt gekrümmt in dem da weißen/ baum, welcher für ein paar tage/ blüht (...)“.

Von Hinterhof aus führt die Bewegung mal hektisch, mal strikt rhythmisch, mal schleppend oder schweifend aus dem Hinterhof hinaus in die Winkel der Stadt und aus ihr heraus.

Unterlegt sind diverse Verweise auf das erste Bild (Vögel und ein magisches Weiß). Die Rückkehr ans Fenster ist Voraussetzung für den Text; die Peripherie wird zum eigentlichen Zentrum, denn hier steht die „dichtmaschin“, die, wenn sie tickt, den weißen Baum zum Blühen bringt. Andererseits läuft sie immer dann langsamer, wenn der Herr Poet den Vorderausgang nicht mehr benützt und „besagte orte,/ wo heftig gesprochen wird“, eigenbrötlerisch meidet: Hummelt konstruiert Welt und Gegenwelt.

Sein Material sind die uralten Klischees, allen voran das vom romantischen Genie: Er transformiert die Motive (inclusive Schäferstündchen und Krankheit-zum- Tod) mit ernsthafter Attitüde, auch mit Hochachtung, formverliebt. Dabei ist aber der Textfluß ständig durch willkürlich hineinmontierte Floskeln unterbrochen, die ironische Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch, unter welcher Überschrift hier gearbeitet wird: „Knackige Codes“ – will sagen, alles ist auflösbar, und alles hat seine Formeln, und die wechseln ständig, womit endlich auch die herbeizitierte Tradition einfach verschluckt, verbraten, eingewickelt wird, was dann freilich Melancholie erzeugt, die erneut nach einem Bruch verlangt: Hummelt parodiert nicht nur (wie in „Basic Hoelderlin“ für Ernst Jandl) längst verstorbene Kollegen, sondern gern auch sich selbst. Überhaupt hat er sichtlich Spaß daran, sich in seinen Texten zu stilisieren. Für den Sinn der Angelegenheit ist dann ja die Leserschaft zuständig: „Ich habe das radiert,/ was nach bekenntnis klang.“ Um das zu unterstreichen, bemüht Hummelt eloquent die Kunst der Untertreibung. „KEINER DIESER SCHLAMPIGEN/ Sätze hier hat irgendwas zu/ bedeuten“, verkündet er, auch daß „der Sinn sich munter selbst“ erzeugt: „die Bedeutung kommt von allein“, was ganz besonders für die Großstadt gilt. Die ist voller Freaks, denen Hummelt die Floskeln klaut, um sie zu einer Szene zusammenzuwerfen, in der munter dahergeplappert wird. Pick-ups nennt er das und baut ein paar böse Katastrophen ein: Die imaginäre Kamera hetzt ziellos die Straße entlang, von Kneipe zu Kneipe, zum nächsten Tanzschuppen und spult ein ganzes Kapitel lang Gelaber auf, dem jeglicher Sinn abhanden gekommen ist: Schnell noch alles sagen, „bis der schmerz den kopf erreicht,/ dem die augen ausgehen/ nach langem blick.“ – Es folgt das nächste Kapitel: Zurück dorthin, wo die Dichtmaschin rattert und „Formsachen“ macht, bis das Spiel noch Mal von vorn beginnen kann: „winterreise als inventur: meine sprache, mein auge, mein fenster, mein platz. bei tag bei nacht zieht es mich hinaus, wie an den augen zieht es mich hinaus (...)“. Und noch eine Fahrt, strukturierter diesmal, zack-zack hineingedrängt ins letzte Kapitel, bis an dessen Ende in Anspielung auf Rolf-Dieter Brinkmann ein Bild steht („Köln, Blicke“): Aufnahmen, als ob eine unbewegt aufs Stativ montierte Kamera im Raum steht und mitschneidet, bis der Dichter den Strom ausknipst: „wir bleiben auch nicht mehr lange hier, still, bei/ nacht, am fenster, still. wie es meinem mund entfuhr, wer gab mir/ dieses muster vor, jemand soll endlich stop sagen,/ stop.“ Friederike Freier

Norbert Hummelt: „Knackige Codes“. Gedichte, mit Zeichnungen von Angelika John. Edition Galrev, 96 Seiten, 20 DM