Tapie steht immer wieder auf

Mit berlusconischer Nonchalance macht der Fußball-Präsident Politkarriere, wobei OM im „undurchschaubaren Finanzstrudel“ versinkt  ■ Aus Marseille Peter Bausch

Zuerst strahlender Sonnenschein, der den eiskalten Mistral- Wind fast vergessen läßt. Plötzlich wird der Himmel grau, sintflutartiger Regen holt die letzten Kirschblüten von den Bäumen. Nichts charakterisiert die Lage von Olympique de Marseille besser als die „giboulées“, das provencalische Gegenstück zum deutschen Aprilwetter. Heute, fast ein Jahr nach dem offenbar gekauften Meisterschaftsspiel gegen Valenciennes, weiß wirklich niemand mehr, was dem französischen Spitzenclub und seinem Präsidenten Bernard Tapie blühen wird.

Selbst Rudi Völler, der ganz gewiß nicht zu den großen Sprücheklopfern der Branche gehört, wird's langsam zu bunt. Die Spitzenfunktionäre des französischen Fußballs seien „Feiglinge, unfähig, Entscheidungen zu treffen“, klagte der Mittelstürmer in France-Football. Der Deutsche, im „Vélodrome“- Stadion respektvoll „le renard“, der Fuchs, genannt: „Die Saison ist bald zu Ende, und niemand weiß, woran er ist. Je länger man mit Sanktionen wartet, desto schlimmer wird es – für uns Profis und für unsere Anhänger.“

Der Fall Marseille zieht sich wie eine Lunte durch die Saison, sprengt längst die engen Grenzen der Fußballwelt. An den Affären rund um OM, die magischen zwei Buchstaben für den Club, haben sich inzwischen nicht nur Funktionäre, sondern auch Politiker, Richter und Journalisten die Finger verbrannt. Jede Enthüllung zieht einen Rattenschwanz an neuen Skandalen nach sich. Wie ein Krebsgeschwür. Doch niemand wagt den großen Schnitt. Sicher scheint nur eines: OM wird 1994 nicht Meister, der Vorsprung des ungeliebten Hauptstadtvereins Paris Saint-Germain ist kaum mehr aufzuholen.

20. Mai 1993: Titelkandidat Marseille gewinnt 1:0 beim abstiegsbedrohten US Valenciennes- Anzin (VA). In der Halbzeit wird erstmals von Bestechung gesprochen.

Sechs Tage darauf gewinnt OM in München gegen den AC Mailand als erster französischer Verein überhaupt den Europapokal der Landesmeister. Am 29. Mai sichert sich Marseille gegen Paris den nationalen Titel. Bernard Tapie und seine Kicker triumphieren im blau- weißen Farbenmeer am Alten Hafen. Doch die Wechselbäder der „giboulées“ lassen nicht auf sich warten, der Freudentaumel wird zum Alptraum.

Der Französische Fußballverband kapituliert vor dem Bestechungsverdacht im Match gegen Valenciennes und schaltet die Justiz ein. Die Affäre VA-OM ist geboren. Im elterlichen Garten des VA- Kickers Christophe Robert findet die Polizei 250.000 Francs. In einem vergrabenen Briefumschlag voller Fingerabdrücke, die bis heute nicht identifiziert sind. Robert kommt ins Untersuchungsgefängnis. Wie Jean- Jacques Eydelie, der das Geld übergeben haben soll. Der vermutete Auftraggeber, OM-Geschäftsführer Jean-Pierre Bernès, läßt sich in ein Krankenhaus einweisen, kommt in U-Haft und tritt von seinem Posten zurück.

Staatsanwalt Eric de Montgolfier und Ermittlungsrichter Bernard Beffy wirbeln in aller Öffentlichkeit. Eine Pressekonferenz jagt die andere. Das geht sogar Staatspräsident François Mitterrand über die Hutschnur. In seiner Ansprache zum Nationalfeiertag am 14. Juli verteidigt er ausdrücklich seinen politischen Zögling Bernard Tapie, der gerade trotz des sozialistischen Wahldebakels seinen Abgeordnetensitz in der Pariser Nationalversammlung wieder erobert hat. Die Affäre wird politisch. Der OM-Präsident wettert gegen die „Gestapo-Methoden“ der Behörden, handelt sich eine Anzeige wegen Diffamierung ein. Sein Pariser Büro wird achtmal durchsucht, die Justiz ermittelt wegen Verdachts auf Zeugenbeeinflussung.

Politik, Sport, Justiz und großes Geld sind eine explosive Mischung. In Zürich schließt die UEFA Marseille aus dem Europacup aus, akzeptiert Klinsmann- Club AS Monaco als Statthalter. OM darf nicht einmal um den Interkontinental-Pokal kicken, steht wirtschaftlich vor dem Aus. Tapie verkauft seine Stars Allen Boksic und Marcel Desailly nach Italien. Die Stadt Marseille, das Département und die Region, alle unterschiedlicher politischer Couleur, springen gemeinsam mit Finanzbürgschaften ein. Der französische Verband erkennt OM den Meistertitel 1993 ab, verlangt den Rücktritt von Tapie, läßt aber Marseille den nationalen Pokalwettbewerb bestreiten.

Triumph und Alptraum liegen nirgendwo so nah beieinander wie in Marseille. Und OM ist und bleibt das einigende Band in der Mittelmeer-Metropole, deren wirtschaftlicher Niedergang die Arbeitslosenquote in manchen Stadtvierteln auf über dreißig Prozent getrieben hat. Ausgerechnet dort, bei den kleinen Leuten, ist Multimillionär Bernard Tapie der unbestrittene König, der den Fußballverein perfekt für seine politischen Ambitionen einsetzt. Silvio Berlusconi, Boß des AC Mailand und Chef der „Forza Italia“, läßt aus Italien grüßen.

Auch Bernard Tapie triumphiert auf politischem Parkett, hat bei den Kantonalwahlen Ende März das triste Marseiller Quartier „Bella de Mai“ im Handstreich genommen. Natürlich, am Tag vor dem ersten Urnengang hatten Rudi Völler, Sonny Anderson und Basile Boli nach einem Elfmeter- Krimi Monaco aus dem französischen Pokal geworfen, hatte UEFA-Präsident Lennart Johannson seine Bereitschaft erklärt, Marseille die Strafversetzung in die zweite Liga zu ersparen und FIFA-Chef Joao Havelange die Hafenstadt ins Auge gefaßt, um die Gruppen für die Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich auszulosen.

Das magere Unentschieden von OM eine Woche später gegen Montpellier hat am politischen Erfolg des Präsidenten nicht gekratzt. Bei einer Wahlbeteiligung von über 50 Prozent – doppelt soviel wie in der „Belle de Mai“ üblich – schlug Bernard Tapie die Kandidatin von Le Pen, Marie-Claude Roussel, mit knapp 68 Prozent der Stimmen.

Aber Marseille und Tapie entrinnen den „gibouleées“-Wechselbädern nicht mehr. Am Morgen nach dem Wahlsieg hatte die Justiz die nächste Bombe platzen lassen. Auf Tapies eigenem Platz, nämlich in der Buchhaltung von OM. Seit über drei Jahren prüft die Polizei die Club-Konten. Jetzt will Richter Pierre Philippon wissen, was es mit den genau 80.045.277 Francs (rund 24 Millionen Mark) auf sich hat, die zwischen 1988 und 1990 auf bisher ungeklärte Art und Weise durch die OM-Bücher geisterten. „Völlig falsche Anschuldigungen, wieder in Komplott von Justiz und Medien gegen mich“, wetterte Bernard Tapie sofort.

Ans Tageslicht kommen jetzt die zweifelhaften Praktiken bei Spielertransfers im Profi-Fußball. Millionenbeträge wandern offenbar unkontrolliert über Ländergrenzen, verschwinden in Steuerparadiesen oder auf Schweizer Nummernkonten.

Für Christophe Bouchet, den Autor der jetzt veröffentlichten äußerst kritischen Biographie „Tapie, l'homme d'affaires“, agieren die internationalen Profi-Klubs in einem „undurchschaubaren Finanzstrudel“. Und Olympique Marseille habe jahrelang im rechtsfreien Raum gespielt, gedeckt von Ministern: „Ungestraft hat man dem Klub die Mittel zugestanden, die sein Präsident gebraucht hat, um Frankreich den Europapokal zu bescheren, als Symbol zur Wiederherstellung des Nationalstolzes.“

Bernard Tapie, nach eigenen Angaben mit 180 Millionen Francs Miteigentümer von OM, ist sich sicher, auch das neue Verfahren politisch zu überleben. Das Ultimatum, die Klubleitung bis zum 20. April abzugeben, ist von einem Gericht für null und nichtig erklärt worden. Ex-Spieler Eydelie hat den Präsidenten inzwischen vom Vorwurf der Zeugenbeeinflussung reingewaschen und dafür die Verbandsfunktionäre schwer belastet.

Die Wechselbäder der „giboulées“ in der Affäre VA-OM sind noch lange nicht zu Ende. Unter Sonnenschein und Hagelwetter peilt Bernard Tapie jetzt sein nächstes Ziel an: 1995 will das Stehaufmännchen Bürgermeister von Marseille werden. Die satirische Wochenzeitung Le Canard enchainé hat schon das Traum-Drehbuch für Tapie geschrieben: „Kurz vor der Wahl ein paar Tage im Gefängnis, und der Rathaus-Chefsessel ist ihm sicher.“ Aber Tapies Triumphzug geht noch weiter: Als Präsidentschaftskandidat steht der Grande vom Mittelmeer mittlerweile haushoch im Kurs. Nach neuesten Umfragen liegt er sogar noch vor Michel Rocard.

Fehlt nur noch, daß in zwölf Monaten OM wieder im Europapokal kickt.