■ Spätlese
: Viktorianismus

Der Viktorianismus bietet sich dem zeitgenössischen Auge als ein entlegenes Dachgeschoß dar, vollgerümpelt mit Abendkleidern, die zu tragen jede Gelegenheit fehlt – und dies zu bedauern ebenso. Hin und wieder jedoch gibt es Überraschungen; die skandalöse George Eliot in der biographischen Vorstellung von Elsemarie Maletzke gehört dazu, aber auch ein Herr wie Wilkie Collins, der sich im tugendlichen London des vergangenen Jahrhunderts zwei Haushalte samt liebender weiblicher Vorstände leistete, seinen von Rheuma und Gicht, womöglich auch Syphilis geplagten Leib mit Laudanum zu Tode drogierte und im übrigen ein ebenso selbstbewußter wie kaufmännisch begabter Trivialschriftsteller war. Sein erfolgreichstes Werk, erstmals in Fortsetzungen in Dickens‘ Zeitschrift All the Year Round erschienen, wurde nun neu (und vollständig!) übersetzt: „Die Frau in Weiß“, deren Handlung die Älteren unter uns noch von einer an Langeweile, Prätention und Blödigkeit unübertrefflichen Fernsehverfilmung (mit, natürlich, Heidelinde Weiß) her in schwacher, aber trauriger Erinnerung haben. Dem kann nun abgeholfen werden: Wer bald in Urlaub fährt, unter Schlafstörungen leidet oder aus anderen Gründen Zeit übrig hat, die nicht der Verwertungslogik unterliegt, sollte sich mit dieser Gothic Novel in eine Dachkammer der Seinsvergessenheit zurückziehen, die mit komplizierten Testamentsregelungen, Verwandtschaftsfehden, romantischer Liebe und kriminellen Elementen bequem möbliert ist. Durchaus amüsabel sind Collins' böse Kommentare zu den kulturellen und gesellschaftlichen Ideologien seiner Zeit; so macht er sich über die Anbetung der Natur ebenso her („Die Bewunderung der Naturschönheiten, von der modernen Dichtung so beredt und ausführlich dargestellt, ist nicht einmal bei den Besten von uns ein angeborener Instinkt.“) wie über die Entbeinung der Frau: „Hätte ich die Vorrechte eines Mannes, würde ich mir sofort Sir Percivals bestes Pferd satteln lassen und in die Nacht hinaussprengen, dem Osten zu, der aufgehenden Sonne entgegen – ich würde im Galopp dahinreiten, stundenlang, ohne anzuhalten – wie bei dem berühmten Ritt der Räuber nach York. Aber ich bin nur eine Frau, auf Lebenszeit verdammt zu Geduld, Schicklichkeit und Unterröcken, daher muß ich darauf Rücksicht nehmen, was wohl die Haushälterin von mir denken würde, und versuchen, mich auf eine schwache, weibliche Art zu fangen.“ Am lustigsten allerdings ist Collins' Anti-Klerikalismus. Lokaltermin Sakristei: „Der Raum war düster und muffig und hatte eine niedrige Balkendecke. Links und rechts an der Wand standen schwere Holzschränke, wurmstichig und voller Risse. In einer Ecke hingen an einem Haken Chorhemden, die bis zum Fußboden reichten und sich zu einem schlaffen Bündel bauschten. Sie sahen überhaupt nicht nach feierlichem Ornat aus – im Gegenteil: Wenn ich mir unterhalb dieser Chorhemden Füße vorgestellt hätte, wäre das ein merkwürdiges Bild gewesen – etwa eine Gruppe ungepflegt aussehender Pfarrer, die sich gemeinsam erhängt hatten.“ Und Amen.

Wilkie Collins: „Die Frau in Weiß.“ Aus dem Englischen neu übersetzt von Ingeborg Bayr. dtv, 655 Seiten, 18 DM.