■ Ein arabisches Attentat und das Holocaust-Gedenken
: Ein und derselbe Tag

Der Anschlag eines Palästinensers auf über fünfzig Israelis in Afule hat acht Menschen das Leben gekostet – wenn nicht noch weitere an ihren Verletzungen sterben. Die Israelis in dem Bus und einige Passanten waren mit mehr oder weniger alltäglichen Dingen befaßt, als sie sterben mußten oder verletzt wurden. Das Massaker hat viele Hoffnungen zerstört, und es hat die Angst in der israelischen Gesellschaft vergrößert. Es ist die Angst vor einer unberechenbaren tödlichen Gewalt, gegen die keine hochgerüstete Armee und keine ausgeklügelte Sicherheitspolitik schützen kann.

Der Attentäter mordete einundvierzig Tage nach dem Überfall auf die Palästinenser in der Moschee von Hebron, am Tage nach Ablauf der vierzig Tage Trauer, die der Islam Angehörigen von Toten auferlegt. Der Attentäter mordete wenige Stunden vor dem Anfang des Holocaust-Gedenktages, der in Israel an eben diesem Tag mit dem Aufgehen des ersten Sterns am Abendhimmel begann. Es war ein und derselbe Tag, doch ist er Markierungspunkt in zwei Zeitrechnungen, zwischen denen Welten liegen und die beide gleichermaßen gegenwärtig sind: der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Europa, die im Naziterror der Deutschen kulminierte, und der Geschichte des Nahostkonflikts. Diese Koinzidenz, das palästinensische Attentat wenige Stunden vor dem Holocaust-Gedenken, bestimmt die Interpretation des Geschehens in der israelischen Gesellschaft mit – und macht es für sie noch bedrohlicher. Im israelisch-palästinensischen Konflikt agieren beide Seiten – im guten wie im bösen – immer wieder unfreiwillig im Kontext des jeweils anderen Referenzsystems. Auch das macht den Nahostkonflikt so unendlich kompliziert und jede Verständigung zu einem kleinen Wunder.

Um die Verständigung ist es heute sicherlich besser bestellt als je zuvor in der Geschichte des Nahostkonflikts. Doch Attentate wie das in Hebron und das in Afule gefährden diesen Prozeß. Sie bringen beide Bevölkerungen gegen den Kurs der Verständigung auf; damit hat die PLO ebenso zu kämpfen wie die israelische Regierung. Daß beide Seiten so verschieden auf die beiden Attentate reagierten – die PLO mit einer Aussetzung der Gespräche, die Regierung Rabin mit einem entschiedenen Plädoyer für deren Fortsetzung –, ist auf die unterschiedliche Lage von Israelis und Palästinensern zurückzuführen, nicht auf eine ungleiche Verteilung politischer Vernunft. Trotz aller innenpolitischer Konflikte vor allem mit den Siedlern hat die israelische Regierung bislang wenig aufgeben müssen, während die Palästinenser wenig gewonnen haben und mehrheitlich erst einmal weiterhin unter dem Druck von Besatzung und Siedlern leben müssen. Es bleibt zu hoffen, daß die militanten Oppositionen in beiden Gellschaften ihrem Protest gegen den Kurs der eigenen Führung nicht weiterhin mit Mord und Terror gegen die jeweils andere Bevölkerung Ausdruck verleihen. Nina Corsten