Ins Nirgendwo

■ 4. Tanztheaterwochen: „Falling“ von Nadine Ganase

Auf bloßen Füßen oder in hochhackigen Schuhen - sie schreiten, springen, tanzen, fallen, wälzen sich, versuchen noch, schon am Boden liegend, zu gehen: Fünf Frauen in dem eineinhalbstündigen Tanztheaterabend „Falling“, der zweiten Choreographie der Belgierin Nadine Ganase, die zuvor sechs Jahre in Anna Teresa de Keersmakers Ensemble Rosas getanzt hatte. Irritationen, wutschnaubende Zuschauer und Bravo-Rufe bei der Premiere von „Falling“ bei den 4. Tanztheaterwochen auf Kampnagel am Donnerstag.

In folgender Versuchsanordnung vollzieht sich der tänzerische Countdown: Der Bühnenraum leer, links flankiert von einem Schienenstrang, der am vorderen Bühnenrand in einer Art Fernsehstudio endet, aus dem von Zeit zu Zeit eine der Tänzerinnen Neuigkeiten vermeldet; die rechte und die hintere Bühnenseite gesäumt von einigen Stühlen; die Front zum Publikum unterbrochen von drei großen und drei kleinen Monitoren: Die großen verdoppeln mitunter das Bühnengeschehen, die kleinen zeigen Portraits einzelner Tänzerinnen während der Proben und verzerren die Zeitschienen des Spiels auf der Bühne. Dazu prasselt es zeitweilig Texte auf englisch, spanisch, französisch und deutsch, über Männer, Tod, Hitchcock oder ein Einschußloch, das Ganze gelegentlich umtost von schwelgerischer Orchestermusik oder mal getaucht in schwere Hip Hop-Rhythmen.

Ein überbordendes Angebot an Bildern, Eindrücken, medialen Spiegelungen zu Themen zwischen Krieg, Wahrheit, Wahrnehmung und Zeit überflutet das Publikum, das in der Mehrzahl dem Geschehen mit großer Konzentration zu folgen sucht. Einige Zuschauer schleppen ihre Verwirrung über das Bühnengeschehen lauten, protestierenden Schrittes vor Ablauf des getanzten Countdowns hinaus in die Winterhuder Nacht.

Eine Tänzerin führt anfangs, sich lässig den (Angst-?) Schweiß von der Stirn tupfend, vor, wie Cary Grant in Hitchcocks North By Northwest den coolen Mann gab. Macho-Gesten, die sich aufzulösen beginnen im nächsten gestischen Zitat des italienischen Starkomikers Roberto Begnini in Jarmuschs Film Down By Law: Wie hat die Mama das kleine Kaninchen geliebt, und - zack - wie schnell beförderte sie es vom Leben zum Tod, um den leckersten Braten daraus zu bereiten. Die Erzählerin bricht ab, läßt sich in einen unsicheren Tanz fallen, rollt über den Spann ab, als versuchte sie auf Gummibeinen wie durch einen unsichtbaren Sumpf zu gehen, der sie immer weiter zu Boden zieht.

Starke Bilder der einzelnen Tänzerinnen prägen sich ein, aber enden plötzlich im Nirgendwo. Immer wieder faszinieren auch die kraftvoll getanzten Formationen der fünf, wenn ihre Körper in der Diagonale über die Bühne schleudern. Bilder, die den Zuschauer packen, aber plötzlich allein lassen. „Ten - neun - ocho“, mehrsprachig wird bis zum Blackout abgezählt, langsam und irgendwie schwer erhebt sich das Publikum, vollgefüttert mit Bildern und doch nicht satt.

Julia Kossmann

Noch heute abend, Kampnagel Halle 6, 20.30 Uhr