Volkes Stimme in Politikers Ohr

■ Stadtoberhäupte und Abgeordnete suchen in Sprechstunden und Stammtischen die Nähe zum Bürger / Walter Momper hielt als einziger Regierender Bürgermeister nichts davon

Gerhard Keil umschließt mit beiden Händen die Hand von Ruth S. „Voriges Jahr haben wir uns ja schon einmal miteinander geärgert“, begrüßt er die Bekannte, deren Name ihm nicht mehr einfällt. Keil setzt sich an dem großen Tisch in dem Raum, wo der Bezirksbürgermeister von Mitte seine Bürgersprechstunden abhält, direkt neben die Besucherin. „Es wirkt freundlicher, wenn man sich nicht gegenübersitzt, hab ich mal gelernt“, versucht der Sozialdemokrat, das Vertrauen von Ruth S. wiederzugewinnen. Im letzten Jahr hatte sie sich über Container von Autoschilderfirmen in ihrer Straße beschwert und lange Zeit vergeblich auf seine versprochene Antwort gewartet. „Ich hoffe, Sie nehmen meine Freundlichkeit an“, ringt der Keil um ihre Sympathie.

Ohne Umschweife kommt Bürgerin Ruth S. auf den Grund ihres Besuches zu sprechen: den überfälligen Bau einer Ampel, offene Baugruben, die Müllhalden gleichen und fehlende Bänke in ihrem Wohngebiet machen sie „richtig wütend“. Eine Mitarbeiterin der Bürgerberatung notiert nicht nur ihre Probleme, sondern auch Keils Versprechen, die Anfragen an das Tiefbauamt weiterzuleiten und Ruth S. in spätestens drei Wochen zu antworten. Ruth S. blickt „ihrem“ Bürgermeister tief in die Augen: „Es dauert aber hoffentlich nicht wieder ein halbes Jahr wie beim letzten Mal.“

In den ersten Sprechstunden nach der Wende, erzählt Keil, „sind viele ulkige Leute mit ihren Problemen aus allen Ecken Berlins gekommen, die teilweise psychische Betreuung gebraucht hätten“. Andere wiederum seien schon zufrieden, einfach über ihre Probleme reden zu können. In der Mehrzahl der Fälle, ist Keil überzeugt, könne geholfen werden.

Da ist Walter Momper, ehemaliger Regierender Bürgermeister, ganz anderer Meinung. Er war der einzige Regierende, der die 1978 von Dietrich Stobbe eingeführten Bürgersprechstunden nicht abhielt. „Ich halte nichts davon, dem Bürger in fünf Minuten den Eindruck zu geben, man könnte die ganze Stadtverwaltung machen“, so Momper. „Oft sind es doch arme Würstchen, die im Fünf-Minuten-Takt abgefertigt werden“, begründet er seine Abneigung gegen diese Art der Bürgernähe. Und als Regierendem habe ihm schlicht die Zeit dafür gefehlt.

Sein Nachfolger dagegen läßt es sich nicht nehmen, alle zwei bis drei Monate den großen und kleinen Sorgen von BerlinerInnen zuzuhören. Wer mit Eberhard Diepgen (CDU) im Roten Rathaus plaudern möchte, muß früh aufstehen, um eine der dreißig Nummern zu ergattern. Nach einer Taschenkontrolle und einer Schilderung des Anliegens beim Bürgerreferat ist Diepgen ganz Ohr. Die meisten BerlinerInnen kommen mit persönlichen Problemen, so Bernd- Sieghard Vogel, Leiter der Einrichtung. Er ist voll des Lobes darüber, wie Diepgen „auf die Leute eingeht“. Schon der Verweis an die richtige Behörde sei ein Erfolg. Im Gegensatz zu den Bürgersprechstunden, bei denen es um Probleme einzelner geht, ist der Bürgerstammtisch eher ein Forum Gleichgesinnter. Bei einem Stammtisch, zu dem der Bundestagsabgeordnete Heinrich Lummer (CDU), Direktkandidat für den Wahlkreis Spandau, jeden ersten Sonntag im Monat einlädt, ging es unlängst um die große und kleine Politik: die Nominierung von CDU-Kandidaten in Brandenburg: „Die CDU-Nappels dort müssen zur Räson gebracht werden!“ forderte einer. Wo Peter- Michael Diestel einzuordnen sei, fragte ein anderer. Lummer: „Nirgendwo.“ Wieder andere wollten über die Einführung des grünen Pfeils im Westteil der Stadt sprechen. „Freie Fahrt für Rechtsabbieger“, so Lummer und sprach damit allen aus dem Herzen. Als ein Redner wissen wollte, was er von „alten Stasi-Seilschaften in der Wirtschaft“ halte und was dagegen unternehmen könne, weigerte sich der CDU-Mann zum großen Verdruß des Fragestellers, eine pauschale Verurteilung abzugeben. „Es ist doch eine nackte Wahrheit, daß die Stasi-Leute keine Affenköpfe, sondern intelligente Leute waren. Woher sollen Staat und Regierung wissen, wo die alle sitzen?“ fragte Lummer in den mit cirka 80 Besuchern gefüllten Saal des „Spreegarten“ am Alex. „Dann müssen Sie denunzieren“, beendete er diese Diskussion.

Bei einem Thema waren sich die „Lummeraner“ einig: der Asylpolitik. Im Gegensatz zu Lummer brachten einige von ihnen ihre Meinung nur offener zum Ausdruck. Während der Gastgeber zurückhaltend von einer „Kontrolle der Zuwanderung“ sprach, platzte es aus einer Frau heraus, die sich zuvor als „Judenhasserin“ vorgestellt hatte: „Wir sollen den Gürtel immer enger schnallen. Heute habe ich die Hose zu Hause gelassen, die rutscht mir nämlich runter.“ Barbara Bollwahn