: "Mit getürkten Zahlen" in die Zukunft
■ Ein Gespräch mit Professor Faruk Sen, Direktor des Zentrums für Türkeistudien an der Gesamthochschule Essen
taz: Für 1994 erwartet der türkische Tourismusminister Ates 7,5 Millionen Touristen, darunter 1,5 Millionen Deutsche, und 4,5 Milliarden US-Dollar Tourismuseinnahmen. Herr Sen, Sie sagen, daß diese Zahlen nicht der Wahrheit entsprechen. Warum?
Faruk Sen: Man kann ohne weiteres als Türke den Begriff verwenden, daß unser Tourismusminister mit getürkten Zahlen arbeitet. Seine Zahlen entsprechen überhaupt nicht den Erwartungen der türkischen Reiseveranstalter. Wir haben im Februar bei 59 türkischen Reiseveranstaltern, die die Türkei anbieten, eine Umfrage gemacht. Sie rechnen mit einem Rückgang von 30 bis 70 Prozent. Optimisten gehen davon aus, daß höchstens eine Million deutscher Touristen die Türkei besucht.
Wenn der Tourismusminister mit den Zahlen kommt, die nicht der Wahrheit entsprechen, enttäuscht er auch die türkische Öffentlichkeit.
Für das Jahr 2000 hat das Tourismusministerium etwa zehn Milliarden US-Dollar aus dem Tourismus hochgerechnet. Ist das nicht viel zu optimistisch, besonders vor dem Hintergrund der momentanen innenpolitischen Schwierigkeiten?
Sie haben recht. Seit 1990 hat die Türkei die Zahl der Einnahmen nie realisiert, die man in den Fünfjahresplänen vorsieht. Im vorigen Jahr hat man 4,5 Milliarden US-Dollar erwartet, aber nur 3,9 Milliarden eingenommen. Die internen Schwierigkeiten der Türkei sorgen dafür, daß diese Zahlen unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht erreicht werden.
Ist die Tourismusbranche dazu verdammt, in der türkischen Wirtschaft zukünftig die Rolle einer maßgeblichen Deviseneinnahmequelle zu übernehmen, um das chronische Außenhandelsbilanzdefizit zu begrenzen?
Die Türkei ist darauf angewiesen, durch zusätzliche Einnahmen das Außenhandelsdefizit, das Jahr für Jahr größer wird, irgendwie zu decken. 1993 betrug es 13 Milliarden US-Dollar, dieses Jahr erwartet man 18 Milliarden US-Dollar. Bis jetzt haben die Überweisungen der türkischen Arbeitnehmer eine wichtige Rolle gespielt, aber in den letzten Jahren setzt die türkische Regierung sehr große Hoffnungen auf die Einnahmen aus dem Tourismus.
Die waren auch vielversprechend. Leider kommt die Türkei seit 1991 nicht an die erwarteten Einnahmen vom Tourismus heran, erst wegen des Golfkriegs und jetzt durch die Angriffe der PKK. Gegen die Drohungen der PKK sind besonders die deutschen Touristen empfindlich und fliegen nicht in die Türkei.
„Wenn man in Deutschland niest, bekommt man in der Türkei Schnupfen“, zitieren Sie ein Sprichwort. Nach Ihren eigenen Prognosen kommen dieses Jahr dreihunderttausend Deutsche weniger als 1993.
Die Deutschen sind die wichtigsten Kunden für die Türkei. Doch sie sind sehr empfindlich, weil in der Bundesrepublik Deutschland 2,1 Millionen Türken leben. Wir haben in der Bundesrepublik eine bikulturelle Gesellschaft mit deutscher Mehrheit und türkischer Minderheit. Die Türken und die Türkei sind ein innenpolitisches Thema in der Bundesrepublik geworden. Das heißt, jedes Ereignis in der Türkei schlägt im nächsten Moment Wellen in der Bundesrepublik, sowohl positiv wie auch negativ.
Stichwort Golfkrieg, Stichwort Anschläge und Drohungen der PKK. Der Tourismus erweist sich, auch in der Türkei, als eine sehr sensible und verwundbare Wirtschaftsbranche. Ist es da nicht eine Gefahr, daß die türkische Regierung derart stark auf den Tourismus setzt?
Alle Mittelmeerstaaten von Spanien bis Israel haben sehr gute Einnahmen aus dem Tourismus. Deswegen ist es für die Türkei selbstverständlich, auch auf diese Karte zu setzen. Denn die Türkei kann mittelfristig ihre Exporte nicht wesentlich steigern, und die Arbeitnehmerüberweisungen gehen zurück.
Man hört in der Türkei oft die Meinung, die deutschen Medien seien durch ihre negative Berichterstattung schuld am Rückgang der deutschen Touristen. Meldungen über Anschläge durch die PKK seien falsch oder würden stark aufgebauscht.
Ich teile diese Ansicht nicht. In der Bundesrepublik Deutschland hat man eine gewisse Zeit den Fehler gemacht, die PKK und die Kurden als eine gemeinsame Sache zu sehen. Die Mehrzahl der Kurden distanziert sich aber von der PKK. Die PKK ist eine Terrororganisation, keine Befreiungsorganisation der kurdischen Volksgruppe. Nachdem aber die PKK im vergangenen Jahr ihr „wahres Gesicht“ gezeigt hat, haben die Medien in der Bundesrepublik reagiert und ihre Aussagen relativiert.
Warum glauben Sie, daß die PKK – trotz ihrer Ankündigungen und Drohungen –, in diesem Jahr keine Anschläge auf Touristenzentren in der Türkei begeht?
Die PKK hat gesehen, daß sie im vorigen Jahr in Deutschland drei Fehler gemacht hat: die Besetzung des Nachrichtenmagazins Focus, die Besetzung des türkischen Generalkonsulats in München und die dreißig Attentate am 4. November. Damit hat sie die letzten Sympathien in der deutschen Öffentlichkeit verloren. Jetzt ist sie als eine Terrororganisation abgestempelt. Deswegen würde sie nie etwas gegen Deutsche oder deutsche Einrichtungen machen.
Sie will nur Angst schüren, damit darunter die türkische Volkswirtschaft leidet. Damit verursacht sie aber die größten Leiden an ihren eigenen Landsleuten. Denn zwei Drittel der Kurden leben in Küstenregionen oder in der Westtürkei. Besonders im Bausektor, der ein Promotor für den Tourismus ist, arbeiten hauptsächlich Kurden.
Interview: Günter Ermlich
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