Wahrheiten, mäßig entstellt

Mathias Wedel geißelt die Ausbreitung der ostdeutschen Mentalität – und vergißt sich selbst dabei  ■ Von Peter Walther

Das sind sie, die Ostdeutschen im vierten Jahr nach der Vereinigung: Leute, die einem auf der Straße Bierbüchsen hinterherwerfen, weil man die falsche Jacke trägt; Menschen, denen man sagen muß, „daß man in einen Geldautomaten nicht hineinzuschreien braucht und auch keine Briefe hineinsteckt“; neue Chefs aus dem Kaderstall der SED, die ihr Kapitalismus-Wissen aus dem Parteilehrjahr mit Gewinn in die neue Zeit gerettet haben, um ihre Belegschaft mit Abmahnungen und heiter-plötzlichen Kündigungen zu traktieren.

Solchen und manch anderen Kanaillen gilt das Interesse des Satirikers Mathias Wedel in seinem Buch „Einheitsfrust“, das gleichermaßen als ein Psychogramm der ostdeutschen Seele wie auch als eine Warnung an die Westdeutschen gedacht ist. Dieser Menschenschlag setzt sich nach Wedel unaufhaltsam, schleichend und von den wenigsten bemerkt in ganz Deutschland durch – der Typus des ostdeutschen Mitläufers („OM“). Aus der „alten, verluderten, verweichlichten, verlotterten, versorgten und unziemlich bunten BRD“, so der Ostberliner Autor, wollen sie einen „schneidigen Laden“ machen. Sind sie im Westen, simulieren die OMs den Zonen- Dödel und jammern über den „Verlust ihrer Utopie“, kaum zu Hause, zünden sie Menschen an und klatschen Beifall dazu wie im Schauspielhaus.

Hat sich doch endlich jemand aus ihren eigenen Reihen gefunden, ein Ostler, der ausspricht, was allen auf der Zunge liegt? Jemand, der nicht durch Herkunft und Anpassung verhindert ist, seine Beobachtungen preiszugeben? Tatsächlich gehört Wedels Charakteristik ostdeutscher Mentalität zu den witzigsten Einlassungen zum Thema: „Die OMs kamen überfallartig und exzessiv menschelnd daher. Mit ihrer schwielig-schwitzigen Herzlichkeit, ihrem unstillbaren Mitteilungsbedürfnis, mit ihrem Kuscheldrang und der manischen Neigung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Hände zu schütteln, zu halten und zu kneten, machten sie die Westler wehrlos. Wie Kinder liefen sie durchs Großraumbüro, wippten selig auf den Federstühlen und sahen dem Blinken des Anrufbeantworters zu. In der ersten Stunde erzählten sie, was ein Westler nicht in zehn Jahren preisgegeben hätte, und dann flitzten sie durch die Straße, um für alle Pfannkuchen zu kaufen.“

Wedel läßt kaum jemanden ungeschoren, auch nicht die hungerstreikenden Kalikumpel, die „CDU-Mitläuferschaft“ aus dem katholischen Eichsfeld, wo Kommunisten in Wendezeiten Gefahr liefen, „dem Volkszorn zum Opfer zu fallen und in einem Salzstollen verklappt zu werden [...] Gregor Gysi, den sie Monate zuvor wahrscheinlich mit Kaliklumpen beworfen hätten, war plötzlich der Anwalt des Vertrauens.“

Doch so treffend Wedels Beobachtungen manchmal sind, so flach wirken seine Versuche, ihnen ein erzählerisches und – Wedel wird es nicht so nennen wollen –ein moralisches Gerüst zu geben. Was soll sonst der Hinweis, Opportunismus sei „gutes Menschenrecht“, und die Bemerkung, das Buch richte sich gegen all jene, die heute behaupten, sie seien „immer nur die anderen gewesen“?

Wedel trifft so ziemlich alle zugleich und damit keinen so richtig – er selbst bleibt ganz verschont. Auf einer Lesung zur Leipziger Buchmesse bekannte er, sich von den „ostdeutschen Mitläufern“ unterschieden zu haben, indem er Spielräume zum Anderssein genutzt hätte. Das mögen ihm seine Kollegen an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED abnehmen, wo Wedel in Vorwendezeiten angestellt war. Wer an Wedels Vergangenheit denkt, dem bleibt das Lachen über dessen realsatirische Enthüllungen allerdings im Halse stecken. Die „Stellungnahme“ zu einem „Parteiverfahren“ gegen ihn, die dem Band vorangestellt ist („Ich werde mich bemühen, künftig keine Mißverständnisse über meine parteiliche Haltung mehr aufkommen zu lassen“), entpuppt sich bei weiterer Lektüre als ein Ablenkungsmanöver. Denn obwohl er sich mit diesen Zitaten in der Schweijk- Pose des Bauernschlauen vorstellt, schreibt er doch über die offensichtlichen Bruchstellen in seiner Laufbahn mit den üblichen „Jenseits von Gut und Böse“-Phrasen geschmeidig hinweg.

Daß er auch gegen Bürgerrechtler zu Felde zieht, die ein paar entscheidende Jahre früher als er das Maul aufgemacht haben, liegt durchaus im Trend der Zeit. Mit ihrer „Humorlosigkeit und Prinzipienreiterei“ wären sie, die Bürgerrechtler, „für jede leninistische Parteizelle geeignet“ gewesen. Das ist schick, das klingt gut – wer möchte da nicht mitlachen? Auch daß Wedels satirischer Furor vor der „sozialistischen Tageszeitung“ Neues Deutschland und der PDS haltmacht, muß nicht weiter erklärt werden. Doch gerade darin entlarvt sich des Autors geistiger Kraftakt als eine neue, nur eben intelligentere Variante ostdeutscher Jammerei. So berichtet er vom Mitteilungsbedürfnis der „ostdeutschen Mitläufer“: „Wenn sie einmal gefragt werden, hören sie nicht wieder auf. [...] Der ewige Minderwertigkeitskomplex wird im Erzählen überwunden.“ Schreibenderweise tut Wedel dasselbe. Doch indem er sich selbst aus dem Spiel läßt, schreibt er dicht an der Redlichkeit vorbei. „Die gefährlichsten Unwahrheiten“, heißt es bei Lichtenberg, „sind Wahrheiten, mäßig entstellt.“

Mathias Wedel: „Einheitsfrust“. Rowohlt Berlin, 156 Seiten, 26 DM