„Die Gesundheitsbewegung tabuisiert den Tod“

■ Man muß ja nicht gerade sagen: Ich sterbe gerne / Annelie Keil im Gespräch/ taz-Serie „Sterben in Bremen“, Teil 4

Mit Handfestem beschäftigten sich die bisherigen Serienteile: mit der Begleitung Sterbender, mit dem Sterben im Krankenhaus und mit der Linderung der Schmerzen bei Todkranken. Die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Annelie Keil fragen wir dagegen vor allem nach dem kulturellen Tabu des Todes, dem Tabu der Begrenztheit der Kräfte. Besonders interessant: wie halten es die sogenannten Alternativen mit dem Sterben?

Reden wir heute anders über den Tod als vor zwanzig Jahren?

Annelie Keil: An zwei gesundheitspolitischen Themen sieht man deutlich, daß die Menschen endlich versuchen, ein Bein in die Medizin zu bekommen: nämlich bei Geburt und Tod. Bei der Geburt hat sich vor allem durch die Frauenbewegung viel getan. Beim Tod hat sich nicht ganz soviel getan.

Um selbstbestimmtes Gebären haben die sogenannten Alternativen in den vergangenen zwanzig Jahren gekämpft – kümmern sie sich heute, wo sie älter geworden sind, nun auch um Bedingungen für ein würdiges Sterben? Beschäftigen die sich überhaupt mit dem Thema?

Ich glaube nicht - wobei ich ohnehin bezweifle, ob die 68er so besonders alternativ waren. Gegenwärtig ist eine Generation älter geworden, die bestimmt war vom Prinzip Leistung: Was man will, das kann man auch – Hauptsache, die Arbeits- und die Denkkraft sind unverletzt. Die Leistungsgesellschaft mit ihrem Durchhaltesyndrom hat etwas wiederholt, was wir eigentlich schon an der Medizin kritisiert haben: die Allmacht unserer Kraft, die Vorstellung, daß das, was wir nur genügend planen, auch machbar ist. Krankheit und Verletzung, aber auch Tod, diese Themen waren lange tabuisisert.

Auch bei den Leuten, die sich um eine möglichst natürliche Lebensweise bemühen?

Gerade da. Gerade in der Gesundheitsbewegung erleben wir eine erneute Tabuisierung des Todes. Ich bin von morgens bis abends damit beschäftigt zu verhindern, daß mir irgendetwas passiert, also damit beschäftigt, das Risiko des Lebens, die Zufälligkeit, auszuschließen. Das ist die Parole: Gesundheit statt Leben. Das Leben gefährdet die Gesundheit. Das ist diese Idee, man könnte Krankheit vermeiden und letztlich den Tod vermeiden.

Wenn wir aber die Begrenzheit unserer Kraft nicht sehen, können uns alle möglichen Menschen einreden, wir hätten dies zu tun und das zu tun. Je unbegrenzter ich mir vorkomme, desto mehr lasse ich mich instrumentalisieren. Die Tabuisierung des Todes hatte ja einen unglaublichen gesellschaftlichen Nutzen, weil die Leute sagen ,ich hab noch viel Zeit'. Wir glauben es uns erlauben zu können, keine Prioritäten zu setzen. Du stellst dir nicht die Frage, welche Spur in deinem Leben willst du eigentlich hinterlassen.

Man sagt ja so leicht daher: Der Tod gehört zum Leben dazu. Aber wie kann man denn überhaupt den Tod, oder anders ausgedrückt: die Begrenztheit des Lebens, in den Blick bekommen?

Das Sterben ins Bewußtsein zu nehmen, das ist etwas, was gerade die Generation, die Sie ansprechen, ja zum Teil politisch und ökologisch in ihr Bewußtsein genommen hat, aber auf einer oberflächlich politischen Ebene. Wir sagen „Die Wälder sterben, das Erdöl ist begrenzt, Kulturen sterben ...“ Da haben wir die Begrenzung akzeptiert. Aber mit Geburt und Tod als lebenslangem Prozeß im eigenen Leben, mit Abschied und Trennung, damit können die Leute nicht umgehen.

Es würde uns allen viel helfen, wenn wir das, was wir ökologisch und politisch schon in den Blick genommen haben, auch auf die persönliche Existenz übersetzen würden. Daß wir dann auch den verschiedenen Phasen unseres Lebens Aufgaben geben: Es gibt bestimmte Phasen im Leben, in denen bauen wir auf und eignen uns an und akumulieren, und dann gibt es Phasen, da ist das nicht mehr so wichtig.

Aber ist das nicht ein Schönreden von Tod, schließlich ist Sterben ein grausamer Abbruch und oft verbunden mit fiesen Schmerzen.

Es geht nicht darum zu sagen: Ich sterbe gerne. Aber Leben ist immer diese Spannungsbeziehung zwischen Gesundheit und Krankheit. Geburt und Tod sind ein lebenslanger Prozeß. Das Loslassen und Neu-Kreieren. Das bedeutet eben auch, daß Leben schmerzt. Es sterben übrigens diejenigen Menschen viel schwerer, die das Leben nie geliebt haben. Wenn du dein Leben ständig vetagt hast und gesagt hast „Eines Tages habe ich endlich alle Bedingungen, um leben zu können“, dann bricht in dem Moment, wo du merkst, die Zeit ist wirklich begrenzt, eine wahnsinnige Panik auf.

Nun gibt es ja auch eine Art, die Krankheit in die persönliche Lebensgeschichte zu integrieren, die einen sehr belasten kann, ein bestimmtes psychosomatisches Deutungsmuster: wenn du krank bist, bist du selbst schuld, hast eben zuviel verdrängt...

Es gibt eine sehr schlechte Art der Psychosomatik, wo man sagen kann, daß die Psychologie da zu einer Art Gegenaufklärung geworden ist. Der neue Risikofaktor ist dann nicht mehr das Cholesterin.

Es geht ja vielleicht gar nicht immer ums physische Überleben, sondern darum, daß es einem seelisch besser geht – obwohl man stirbt. Zum Beispiel hat ein Vater von der Sterbebegleitung seines Sohnes in einem englischen Hospiz erzählt: Ja, mein Sohn ist gestorben, aber ich habe vorher gekündigt, und wir haben ein halbes Jahr zusammen gelebt. Ich schäme mich wirklich, wenn ich überlege, ob ich soviel Zeit mit meinem Kind verbracht hätte und soviel von ihm gelernt hätte, wenn es gesund gewesen wäre.

Wir können die Aufklärung über Krankheit und Tod so verkehren, als, hätten wir eben nicht soviel geliebt, wir dann nicht gestorben wären. Ja scheiß doch was drauf. Ja, ich bin leidenschaftlich in das Leben verwickelt und es kann sein, daß ich dabei umkomme.

Aber wie erklärt man sich das dann, wenn man mit 35 an Krebs erkrankt? Sagt man: Ich bin halt ein bißchen blöd konstruiert. Das ist doch immer die erste Frage nach der Diagnose: wieso ich?

Ich sag mal eine sehr simple Antwort. Meine Erfahrung mit mir und mit anderen Patienten ist die: Die Frage, warum bin ich krank geworden und warum muß ich jetzt sterben, die kann man nicht beantworten. Es ist wissenschaftlich und menschlich ein Unding. Die einzige Frage, die du dir als Patient überhaupt noch produktiv zu einer Lebensfrage machen kannst, ist diese: Was kann und darf ich jetzt lernen?

Was kann man denn dann noch lernen?

Menschen lernen ganz Unterschiedliches. Die einen lernen plötzlich, mit Menschen zu sprechen, mit denen sie ganz nahe sind. Der nächste lernt, ich brauche Hilfe und kann es auch sagen. Der Dritte lernt Kritik und Skepsis gegenüber der Medizin – bisher hat er immer alles mitgemacht, was die Arzte machten. Der Vierte lernt, Prioritäten zu setzen. Ich wollte zum Beispiel in die Arbeit zurück, andere wollen vielleicht raus.

Das ist ein Geschenk der Bedrohung: Je intensiver die Bedrohung ist, je begrenzter die Zeit, desto mehr Klarheit wird von dir verlangt. Es bleibt nur furchtbar, wenn gar keine Bewußtheit da ist. Sterben muß jeder. Das sagt man so, wie man sagt: Neurotisch ist jeder. Aber wenn dich deine Neurose wirklich packt, dann mußt du dich an die Arbeit machen. Und genauso mußt du dich an die Arbeit machen, wenn dich deine Sterbensangst packt.

Fragen: Christine Holch