Dorf der falschen Hoffnung

In Nicaragua haben Tausende ehemaliger Contras und Sandinisten die Waffen niedergelegt. Viele kämpfen heute wieder – ums Überleben  ■ Aus Villa Esperanza Ralf Leonhard

Von der Bar „zur schönen Aussicht“ sieht man Richtung Westen die abgeholzten Berghänge jenseits von Esteli, Richtung Osten die staubige Zufahrt zur Siedlung. In grenzenlosem Zynismus wurde sie „Villa Esperanza“ genannt, das Dorf der Hoffnung. Wie auf einem Schachbrett stehen die engen Behausungen aufgereiht, ordentlich nebeneinander. Kein Baum, kein Quadratmeter Rasen erfrischt das Auge. Was auf den ersten Blick ein Lager von Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern zu sein scheint, entpuppt sich als Siedlungsprojekt ehemaliger Rebellen, die vor zwei Jahren ihre Waffen niedergelegt haben.

Bismarck Reyes etwa. Er diente in den Truppen des Innenministeriums, bis er 1988 nach Hause geschickt wurde, noch lange vor den Massenentlassungen im Gefolge der sandinistischen Wahlniederlage. Als ehemalige Contras, die nach dem Regierungswechsel entmobilisiert wurden, Vergeltungsaktionen gegen sandinistische Aktivisten unternahmen und Genossenschaften überfielen, um zu Land zu kommen, holte Bismarck Reyes sein AK-47-Gewehr wieder hervor. Die „Bewaffnete Selbstverteidigungsbewegung“ (MADNA) entstand als Antwort auf die Unsicherheit, der die Revolutionäre auf dem Land ausgesetzt waren.

Der neue Krieg zwischen Recontras und ehemaligen sandinistischen Kämpfern, die bald Recompas (Compa ist die gängige Kurzform für compañero) getauft wurden, dauerte mehrere Monate und forderte Dutzende Tote, bis beide Gruppen in Friedensverhandlungen mit der Regierung einwilligten, sich erneut entwaffnen zu lassen. In den Abkommen wurde den Rebellen Zugang zu Ackerland, Unterricht, Gesundheitsversorgung, Krediten und einer würdigen Behausung zugesagt.

Bismarck Reyes war einer der ersten, der mit seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn in Villa Esperanza einzog. Die „würdige Behausung“ ist ein von Zement-Fertigteilen umgebener Raum von vier mal sechs Meter. Das Dach aus Welleternit, der Boden aus gestampfter Erde. Die hölzerne Zwischenwand, die das „Schlafzimmer“ vom „Wohnzimmer“ trennt, mußte Bismarck selber einziehen. Das Plumpsklo im Hof hinter dem Haus ist eine der wenigen Latrinen in Villa Esperanza.

„Die Abkommen sprachen von Häusern mit Wasser, Strom und Latrinen“, erklärt Antonio Ponce, der von den Einwohnern gewählte Koordinator von Villa Esperanza. Der kleine alte Mann mit dem weißen Bart, der in Esteli spätestens seit dem Aufstand gegen Diktator Somoza bekannt ist, genießt genug Autorität nicht nur gegenüber den Sandinisten, sondern auch bei den 50 Prozent ehemaliger Recontras, die im täglichen Zusammenleben mit dem einstigen Feind zur vielbeschworenen Versöhnung gezwungen werden.

Immer an der Seite von Ponce ist sein Stellvertreter Pascual Altamirano, Kampfname: „Pantera“. Der „Panther“ hatte mit Eden Pastora an der Südfront zuerst gegen Somoza und dann gegen die Sandinisten gekämpft. Als Pastora den Kampf aufgab, schloß er sich den von Honduras aus operierenden und von Washington dirigierten Contras im Norden an.

Vier Jahre nach der ersten Demobilisierung sind die Ressentiments zwischen Sandinisten und ehemaligen Contras geschwunden. „Pascualito“, sagt Ponce zum fast doppelt so großen „Panther“, „wir sollten den Leuten den Graben zeigen, wo die Kinder ihre Notdurft verrichten“. In einer Furche, die zwei Häuserreihen trennt, muß man aufpassen, daß man nicht in die Scheiße tritt. „Die Erwachsenen gehen ins Gebüsch hinter der Siedlung“, erzählt Pantera, „aber in der Nacht halten sie es manchmal nicht aus und kommen auch hierher.“ Nur 100 der 700 Häuser wurden mit Latrinen ausgestattet. Verbunden mit der Wasserknappheit, gibt das den idealen Beutegrund für die Cholera, die in den Armenvierteln Lateinamerikas ihre Opfer sucht und findet. „Zu Jahresende haben wir fünf Kinder begraben, die an akuten Durchfällen starben“, berichtet Antonio Ponce, „ob es Cholera war, wissen wir nicht.“ Zwei Wasserhähne am Eingang der Siedlung haben bisher für alle reichen müssen. Im Morgengrauen heißt es dort Schlange stehen, denn tagsüber gibt es kein Wasser. Die planlose Abholzung in den umliegenden Wäldern droht Esteli nach und nach auszutrocknen. „Heute wird das Wasser installiert“, hofft Bismarck Reyes, der bereits die Plastikrohre und den Wasserhahn für den Anschluß im Haus bereitliegen hat. Aber nicht alle haben die 50 Córdobas, etwa 13 Mark, die die staatliche Wasserbehörde INAA für den Zähler kassiert, ganz zu schweigen vom Geld für den Hahn im Haus. „Viele mußten ihr Radio oder gar ihr Bett verkaufen, um zahlen zu können“, weiß Ponce.

Nach genauso endlosen wie fruchtlosen Behördengängen hatten die Bewohner von Villa Esperanza im Februar die Büros von INAA besetzt, um die sofortige Einleitung des Wassers und die Herabsetzung des Beitrags von 150 auf 50 Córdobas zu erzwingen. „Jetzt werden wir auch INE besetzen müssen“, deutet Pantera an. Antonio Ponce zieht ein Papier des Elektrizitätswerks (INE) aus der Schreibtischschublade, ein Kostenvoranschlag für die Elektrifizierung der Siedlung. Auf jedes der 700 Häuser würde danach ein Beitrag von 760 Córdobas (200 Mark) entfallen. „Wer soll das zahlen?“ fragt sich Pantera.

Antonio Ponce ist der einzige in Villa Esperanza, der einen Fernseher sein eigen nennt. Zwei alte Neonröhren und ein eisernes Sieb auf einer Stange dienen als Antenne, der Strom kommt von der Batterie seines Lieferwagens. „In der Siedlung haben nicht mehr als 17 Personen eine feste Stelle“. Ponce kennt die Sozialdaten aus dem Effeff. Die 17 müßten ihr gesamtes Monatsgehalt für die Stromeinleitung hergeben. Und die anderen?

Einige verdingen sich in Gelegenheitsjobs als Maurer, andere sehen keine Alternative zu Raub und Diebstahl. Villa Esperanza gilt auf der Polizeistation als Verbrechernest. Zwei Typen, die mit klein zusammengerollten Säcken in der Hand Richtung Esteli losziehen, haben mit Sicherheit einen „Fischzug“ vor. In der Nacht machen sich die Mädchen der Siedlung auf dem Hauptplatz von Esteli auf die Suche nach Freiern. „Die Kinderprostitution ist ein echtes Problem geworden“, gibt Bürgermeister Ulises González zu.

Am 2. März entwaffneten sich hundert Kämpfer der sogenannten „Nordfront 3-80“, einer Recontragruppe unter dem Befehl von „Comandante Schakal“, die im August letzten Jahres Schlagzeilen machte, als sie eine Gruppe von Parlamentariern als Geiseln nahm. Sie wurden in neue Uniformen gesteckt und werden nach Absolvierung eines mehrwöchigen Kurses als Polizisten in die Dörfer von Nueva Segovia geschickt, wo sie ihre soziale Basis haben. Der Bruder des „Schakals“ wird als Berater des Innenministers in Managua fungieren. Der bewaffnete Kampf in Nicaragua sei damit endlich ein abgeschlossenes Kapitel, versichert die Regierung.

„Es war zu erwarten, daß es im Gefolge des Krieges zu neuen Aufständen kommen würde“, sagt Oberst Hugo Torres, der Chef des militärischen Geheimdienstes, heute. Die Situation Tausender ehemaliger Contras und von mehr als zehntausend entlassenen Berufsoffizieren sei prekär. In drei Jahren seien über 100.000 Kriegswaffen konfisziert worden. Aber noch immer schlummern in unterirdischen Depots genug Gewehre für eine ganze Armee. Doch für Torres sind die verbleibenden Gruppen gewöhnliche Kriminelle: „Mit Ausnahme von einigen, die sich auf politische Motive berufen, sind es Straßenräuber.“

Die Kriminalität, die stetigen Straßenüberfälle und Verschleppungen für Lösegeld haben die Gegend von Esteli, 150 Kilometer von der Hauptstadt Managua entfernt, zu einer der unsichersten Regionen des Landes gemacht. „Aber die Regierung ist selber schuld, wenn die Leute rauben“, wettert Asunción Laguna. Der ehemalige Kommandant der Recompa-Organisation MADNA hat mit seinem kleinen Gut von achteinhalb Hektar sein persönliches Überleben garantiert. Doch fünfhundert seiner Leute warten noch immer auf ein „würdiges Dach“. Keiner hat die versprochene Ackerparzelle bekommen. Mit der Ansiedlung Tausender ehemaliger Kämpfer, denen keine Arbeitsstellen geboten werden, hat die Regierung eine Zeitbombe gebastelt. Das politische Motiv, durch Tausende ehemalige Contras die Stimmenverhältnisse in einer der wenigen sandinistischen Städte zu kippen, dürfte über die Vernunft obsiegt haben.

Doch die ehemaligen Freischärler und die Bauern der Umgebung fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen und applaudieren Gruppen, die die Justiz in die eigenen Hände nehmen. Die Revolutionäre Arbeiter- und Bauernfront (FROC), die im vergangenen Juli bei einem Überfall auf die Banken von Esteli mindestens eine Million Dollar erbeutete, verteilte das für Kredite bestimmte Geld an die Kleinbauern. Ihr Anführer, der als „Pedrito der Honduraner“ bekannt ist, erfreut sich in Esteli größter Beliebtheit. „Wenn Pedrito sich hier bei den Wahlen bewirbt, wird er Bürgermeister“, bestätigt Antonio Ponce.

Aber Pedrito, ein Mann von der Statur eines Ringkämpfers, hat bisher alle Angebote politischer Gruppierungen abgelehnt, die ihn für sich gewinnen wollten: „Ich ziehe es vor, frei zu bleiben, damit ich nach Belieben herumfahren und die Leute organisieren kann.“

Die FROC wurde im September 1993 entwaffnet. Jetzt unterhält sie ein kleines Büro in Esteli und gewinnt Einfluß bei den ehemaligen Contras. „Mit denen haben wir kein Problem mehr“, versichert Pedrito, „im Elend sind wir alle gleich.“ Neben der Vertretung der Interessen von Demobilisierten kümmert sich die FROC darum, geplante Projekte an Regierungsstellen und ausländische Hilfswerke weiterzuleiten. Was das Prestige bei den Bauern und die Anerkennung der ehemaligen Contras betrifft, kann den Leuten der FROC keiner das Wasser reichen. Wenn sie sich als breite Bewegung unter den Bauern etablierte, wäre die FROC die politische Kraft, die den Sandinisten in den Wahlen 1996 zur Rückkehr an die Macht verhelfen kann. Doch keiner wagt heute vorauszusagen, ob die Organisation in zwei Jahren noch legal sein wird.

Von den Campesinos, die Pedrito im Büro oder in dessen Haus auf der anderen Straßenseite aufsuchen, wollen viele finanzielle Unterstützung für die Aussaat, „aber die meisten sprechen von der Notwendigkeit zum bewaffneten Kampf“. „Das wäre sehr bedauerlich“, meint Pedrito. Doch sein Stellvertreter, der Gewerkschaftsveteran Felix Pedro Miranda alias „der Grauhaarige“ sieht die Entscheidung bereits kommen: „Wir sind aus dem Volk und werden tun, was das Volk von uns erwartet ...“

In Villa Esperanza sind viele Häuser bereits verlassen. Stacheldraht ersetzt die gestohlenen Türen und Fensterläden, und die Exkremente im Inneren lassen die Tristesse dieser Behausungen noch deutlicher zur Geltung kommen. Die ehemaligen Bewohner sind wieder in den Bergen, wissen die Nachbarn. Dort kämpfen sie nicht für eine heroische Sache. Es geht nur ums Überleben.