Nebensachen aus Paris
: Die Grenze des Périphérique

■ Von Banlieusards und anderen Parisern

„Nein, Madame, einen Bus Nummer 125 gibt es nicht“, versichert die elegante alte Dame. Sie hat immer in Paris gelebt. Sie kennt alle Metrostationen, alle Buslinien, die meisten Straßennamen und die schönsten Teesalons – aber was sich jenseits der sechsspurigen Stadtautobahn verbirgt, die hundert Meter hinter ihrer Wohnung vorbeirauscht, weiß sie nicht. Der „Périphérique“ ist die Grenze, die sie nie überschreitet. Auch nicht beim Gassi-Gang mit dem Pudel.

Die fremde Welt jenseits des Périphérique ist die Banlieue. Dort leben jene acht Millionen Menschen, die zusammen mit den zwei Millionen Parisern die „Île de France“ zur größten Menschenansammlung Mitteleuropas machen. Dort liegen alte Dörfer eingekeilt von gigantischen Schlafstädten mit Rathäusern, an denen sich in den 60er Jahren futuristische Architekten austoben durften. Dort gibt es die meisten Einkaufszentren, Sozialwohnungen, ImmigrantInnen und Arbeitslose. Dort entsteht der größte Teil der Pariser Industrieproduktion, dorthin ziehen sich immer mehr Dienstleistungsunternehmen zurück.

„Pariser“ dürfen sich die „Banlieusards“ nicht nennen. „Das wäre reine Prahlerei“, hat meine Nachbarin Viviane mich rechtzeitig gewarnt. Selbst an so weit entfernten Orten wie Marseille sollte ich äußerst vorsichtig sein, denn „es gibt immer jemanden, der Paris kennt“.

Viviane lebt wie ich in Sicht- und Hörweite von Paris. Doch sie, die ihr Geld als Putzfrau in einem Banlieue-Krankenhaus verdient, fährt nur ganz selten „nach Paris hoch“. In der Hauptstadt, wo die Trottoirs morgens mit beinahe kochend heißem Wasser abgespritzt werden und wo Spezialmotorräder die Hundehaufen aufsaugen, leben nach ihrer Ansicht die Großköpfe, die Reichen und die Arroganten.

Der Banlieue mangelt es an fast allem, was das Leben in Paris reizvoll macht: Cafés, Theater, Kinos, begrünte Alleen, phantasievolle Schaufensterauslagen. Wer in der Banlieue abends raus will, muß mit Straßen und Plätzen vorliebnehmen, die die Heimeligkeit von Einkaufszentren haben. In diesen Betonwüsten ist die Randale Alltag geworden. Ein Funke genügt, um die Jugend auf die Barrikaden zu bringen. Zu ihrer Beruhigung hat Paris die Polizeistationen der Banlieue verstärkt. Doch neuerdings tragen die Jugendlichen ihren Frust immer häufiger in die Hauptstadt hinein. Am Rande der Schülerdemonstrationen der letzten Wochen schlugen sie dort ganze Straßenzüge klein.

Die Verdrängung eines Teils der Pariser Bevölkerung begann bereits im vorigen Jahrhundert, als Baron Haussmann im Regierungsauftrag den mittelalterlichen Stadtkern total sanierte. Auf dem Reißbrett entwarf er die stattlichen Boulevards und Avenuen und die schieferbedeckten Bürgerhäuser, die heute das Gesicht der Stadt ausmachen. Der Pöbel mußte an den Stadtrand weichen.

Das moderne Frankreich blieb dieser Tradition treu. Der in den 60er Jahren entstandene Périphérique folgt exakt der alten Befestigungslinie von Paris. Außerhalb wuchern die billigen Hochhaussiedlungen.

Von dem roten Gürtel, der das notorisch konservative Paris außerhalb des Périphérique umgab, sind indes nur einige Sprengsel geblieben. Gentilly, wo Viviane und ich wohnen, gehört dazu. In unserer Nachbarschaft gibt es deshalb noch eine Lenin-Avenue und eine Gagarinstraße. Unsere kommunistische Bürgermeisterin sorgt dafür, daß die Mieten niedrig bleiben.

Die alte Dame, die den Bus Nummer 125 nicht kennt, der direkt hinter dem Périphérique nach Gentilly fährt, guckt mich ein wenig mitleidig an, als ich ihr sage, daß ich dort wohne. Dann sagt sie: „Aber das ist doch gar nicht Paris.“ Dorothea Hahn