Radovan Karadžić braucht einen Erfolg

Nach dem Rückzug bei Sarajevo ist der Serbenführer unter Druck geraten: Die Eroberung der muslimischen Enklave Goražde soll Gegner im eigenen Lager zufriedenstellen  ■ Aus Split Erich Rathfelder

„Am Samstag um 18.45 Uhr haben die serbischen Truppen Giftgasprojektile auf drei Vororte von Goražde eingesetzt.“ Dies meldete gestern morgen Radio Sarajevo. Zwischen 1.000 und 10.000 Menschen seien bei dem Angriff, der gleichzeitig von drei Seiten geführt worden war, umgekommen. In Goražde, der zur Schutzzone der UNO deklarierten Enklave in Ostbosnien, in der mehr als 60.000 Menschen zusammengedrängt sind, finde ein Völkermord ungeheuren Ausmaßes statt. „Unter der Aufsicht der UNO werden die Menschen in Goražde massakriert“, merkte das bosnische Präsidiumsmitglied Ejub Ganić bitter an.

Stimmten diese Angaben, kehrten die serbischen Truppen zu ihren Praktiken zu Beginn des Krieges zurück. Mehr als 200.000 Menschen sollen nach bosnischen Quellen bisher nicht allein durch den Krieg, sondern durch den Terror in Konzentrationslagern und durch wahllosen Mord im Zuge der Vertreibung von Millionen Menschen umgekommen sein. Zwar hatte die serbische Führung die Willkür der Freischärlergruppen, die im Frühjahr und Sommer 1992 freie Hand hatten, jegliche Verbrechen zu begehen, seit dem Herbst 1992 eingeschränkt und versucht, diese Gruppen unter eine einheitliche Kommandostruktur zu zwingen. Doch seien, so ein Kommentar im bosnischen Rundfunk gestern, die „Optionen der ,ethnischen Säuberung‘ mit Mord und Terror“ nicht aufgegeben, sondern lediglich effektiver organisiert worden. Offenbar scheuten die Angreifer nicht einmal davor zurück, mit dem Giftgaseinsatz offen an die Praktiken der deutschen Nationalsozialisten anzuknüpfen.

Gegen einen Einsatz von Giftgas spricht jedoch, daß die Serben bisher stets versucht haben, ihre Kriegführung gegenüber der UNO als „normal“ im Rahmen eines „Bürgerkrieges“ zu verkaufen. Aufgrund der internationalen Kritik – den ersten Drohungen mit einer Militärintervention 1992 – und nach der Stationierung von UNO- Truppen in den restbosnischen Gebieten im Sommer 1992 beschränkte sich die bosnisch-serbische Armee nämlich darauf, die eroberten Gebiete zu sichern und lediglich lokale Offensiven durchzuführen. Ihre großen strategischen Ziele gab sie aber nie auf. Diese bestehen nach wie vor in der Eroberung ganz Ostbosniens, in der Einnahme der zentralbosnischen Gebiete um Maglaj und Doboj sowie der westbosnischen Enklave Bihać.

Um die Herausbildung eines bosnischen Reststaats weiter zu erschweren beziehungsweise ganz zu verhindern, blieb zudem die Option bestehen, mit einem Angriff auf Olovo zu versuchen, die Regionen Tuzla und Zenica voneinander zu trennen. Der bosnische Staat und mit ihm die muslimanisch-bosniakische Bevölkerung sollten vernichtet und vertrieben werden – so das öffentlich erklärte Ziel von Radovan Karadžić.

Neben der fortdauernden Belagerung Sarajevos kam es im Frühjahr 1993 aber lediglich in Ostbosnien zu einer größeren Offensive, die mit Geländegewinnen um Srebrenica, Zepa und auch schon damals um Goražde endete. Zehntausende von Menschen mußten aus ihren Dörfern und Städten fliehen und in Notunterkünften in den Zentren der Enklaven Schutz suchen. Wie in Srebrenica und Zepa entwaffnet, hingen die Menschen in den drei zu UNO-Schutzzonen erklärten Enklaven fortan am Tropf der internationalen Hilfe. Die Konvois mit Hilfsgütern wurden nicht nur einmal von der serbischen Seite behindert.

Die relative militärische Zurückhaltung der serbisch-bosnischen Armee im vergangenen Jahr hing auch damit zusammen, daß seit April 1993 die kroatische HVO den Krieg im Kriege vom Zaune brach. Angesichts dieser Kämpfe wartete Serbenführer Karadžić ab und konnte sich bei den Verhandlungen in Genf sogar moderat geben. Quasi unter dem Schutzschild der Verhandlungen und damit von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, wurde der militärische Druck regional verschäft, so in Behać, in der Region Tuzla, in Maglaj und um Sarajevo. Zugleich boten die serbischen den kroatischen Nationalisten ihr Gebiet als Flucht- und Nachschubweg an, in Zepce bei Maglaj, in Konjic und Kiseljak kämpften kroatisch- und serbisch- bosnische Truppen gemeinsam gegen den Feind, die bosnische Armee.

Bisher konnte die bosnische Armee diesen Angriffen widerstehen. Erst am 15. April 1992, also zehn Tage nach dem Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina gegründet, war sie zunächst bemüht, die Fronten zu stabilisieren. Doch seit Winter 1993/94 kann sich diese „Armee der Zivilisten“ trotz des Waffenembargos der UNO auch gegen die serbischen Truppen durchsetzen: Ein Angriff auf Olovo um die Jahreswende wurde mit großen Verlusten für die serbisch-bosnische Armee zurückgeschlagen. Und gerade in den letzten Wochen gelang es, die serbischen Angreifer um die Enklave Maglaj teilweise zurückzudrängen.

Doch seit dem bosnisch-kroatischen Frieden und dem Nato-Ultimatum für Sarajevo sieht sich die serbische Führung veranlaßt, den militärischen Druck erneut zu verstärken. Denn nach dem unrühmlichen Rückzug bei Sarajevo sei – nach Berichten von serbischen Gegnern Karadžićs – Unruhe bei den serbisch-bosnischen Truppen eingekehrt. Einerseits zeige sich eine Tendenz der Verweigerung, andererseits jedoch auch die von Extremisten geschürte Forderung nach einer „verschärften“ Kriegführung. Karadžić und sein Generalstabschef Mladić bräuchten „Erfolge“, um die Truppen bei der Stange zu halten. Doch vielleicht ist Karadžić nun zu weit gegangen. Sollte sich der Einsatz von Giftgas bestätigen, könnte dies auch von den Staaten, die bisher innerhalb der UNO die serbische Position unterstützen, so zum Beispiel Rußland und Großbritannien, wohl nicht mehr akzeptiert werden. Dies zumindest hofft die bosnische Regierung.